Wer nicht länger auf seine Corona-Impfung warten möchte und genügend Geld hat, kann theoretisch eine Impf-Reise nach Russland buchen. Viele verurteilen das – doch damit macht man es sich zu einfach, finde ich.
In den USA haben rund 50 Prozent der Einwohner mindestens eine COVID-19-Impfung bekommen. Israel hat die Marke von 60 Prozent geknackt, Großbritannien ist bei 50 Prozent angelangt, berichten Medien.
Und bei uns? Seit Hausärzte endlich eingebunden worden sind, läuft es besser. Dennoch: Laut Robert Koch-Institut haben lediglich 18,5 Prozent die erste Dosis bekommen. Das ist in erster Linie ein Armutszeugnis für die deutsche Politik.
Angesichts der knappen Impfstoffmengen zu priorisieren, war vor einigen Monaten die richtige Entscheidung. Größere Risikogruppen für schweres COVID-19 ließen sich anhand wissenschaftlicher Daten erkennen.
Schwierig – und unethisch – wird es für mich, falls tatsächlich Lockerungen für Geimpfte kommen sollten. Die Impfbereitschaft liegt in Deutschland auf einem hohen Niveau: Laut RKI-Befragung wollen sich 67,8 Prozent der Bürger auf alle Fälle per Spritze schützen lassen. Nur warten sie noch Wochen, vielleicht sogar Monate, darauf, obwohl sie den Schutz von sich aus wollen. Sie selbst haben darauf keinen Einfluss. Allein die Liste entscheidet.
Eine STIKO-Entscheidung, das AstraZeneca-Vakzin nur noch Bürgern ab 60 Jahren zu empfehlen, macht es nicht besser. Und der zweite vektorbasierte Impfstoff von Janssen (Johnson & Johnson) wird von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA gerade aufgrund von Sicherheitssignalen untersucht. Auch er könnte hinsichtlich seiner Anwendung eingeschränkt werden, sollten sich Thrombosen – so eine Vermutung – als Gruppeneigenschaft von vektorbasierten Corona-Vakzinen entpuppen.
Dann bleiben noch der mRNA-Impfstoff von BioNTech/Pfizer sowie der mengenmäßig derzeit irrelevante Impfstoff von Moderna. Spätestens Ende Juni sollen Praxen auch das Moderna-Vakzin bekommen: zeitlich ein Trauerspiel. Immerhin skalieren BioNTech/Pfizer hoch. Für das gesamte zweite Quartal rechnet das Bundesgesundheitsministerium mit 50 Millionen – neun Millionen mehr als erwartet.
Wann Sputnik V kommt, steht in den Sternen; seit Anfang März wertet die EMA fortlaufend Daten aus. Laut The Lancet ist das Vakzin sicher und wirksam. Ob einzelne Chargen Probleme machen, wird sich zeigen. Aber in Deutschland warten wir weiter.
Kein Wunder, dass Firmen die Gunst der Stunde nutzen. World Visitor aus Oslo bietet seit kurzer Zeit spezielle Impfreisen an. Deutschsprachige Texte auf der Website lassen vermutet, dass man Kundschaft aus dem DACH-Raum anvisiert. Für knapp 2.000 Euro gibt es zwei Kurztrips nach Moskau, Visa und Impftermine inklusive. Und ab 3.000 Euro lockt eine 23-tägige Rundreise durch Russland inklusive zweier Impfangebote. Zum Einsatz kommt Sputnik V – um organisatorische Fragen kümmert sich der Anbieter.
Dieser Service stößt bei vielen auf Kritik. So spricht etwa SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach von einem „unethischen Geschäftsmodell“.
Doch man kann die Sache auch völlig anders betrachten. Immerhin ist unser Gesundheitssystem seit Jahren so konzipiert, dass Patienten zwar ihre Grundversorgung erhalten, aber aus eigener Tasche Zusatzleistungen buchen können – und auch müssen, siehe Zahnersatz. So werden manche innovativen Therapien von PKVen früher erstattet als von GKVen. Fakt ist: Wir haben eine Zwei-Klassen-Medizin, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Das zeigt sich einmal mehr an COVID-19-Vakzinen. Was ist also so sehr anders an dem Reise-Modell?
So richtig kann ich es denjenigen nicht verübeln, die sich für eine Impfreise entscheiden. Ob Flugreisen aus infektiologischer Sicht eine Gefahr darstellen, ist fraglich. Die meisten Ansteckungen ereignen sich laut RKI zu Hause – spekulativ in Situationen ohne FFP2-Maske.
Auch der Vorwand, man würde Impfstoffe anderen Menschen wegnehmen, hält einer genaueren Überprüfung nicht stand. Für Sputnik V wurde ein neuer Standort bei Mailand aufgebaut; auch im bayerischen Illertissen soll das Vakzin hergestellt werden. Das mag dauern – wer nach Russland reist, konkurriert aber nicht mit der Bevölkerung. Denn die Bereitschaft vor Ort, sich impfen zu lassen, ist gering. Viele Dosen gehen in den Export. Und ohne Programme wie „Covid-19 Vaccines Global Access“ gelingt die weltweite Verteilung sowieso nicht.
Interessanter wäre, zu klären, warum Impfungen in Deutschland bislang so schlecht gelaufen ist. Und zu Lauterbach sei gesagt: Als Koalitionspartner hätte die SPD selbst Ideen einbringen können. Passiert ist wenig – auch nicht von der Union. Warten wir auf die Bundestagswahl.
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