Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) hat kürzlich ein Gutachten mit dem Titel „Digitalisierung für Gesundheit: Ziele und Rahmenbedingungen eines dynamisch lernenden Gesundheitssystems“ vorgelegt.
Da niedergelassene Ärztinnen und Ärzte kaum Zeit haben, sich durch das 394 Seiten starke Konvolut zu kämpfen, kommentiert Dr. Frauke Wulf-Homilius die wichtigsten Passagen zu Chancen und Risiken beinhaltet. Dr. Wulf-Homilius ist Augenärztin in eigener Praxis und Landesgruppenvorsitzende im Virchowbund.
Seit Jahren bedienen Politiker und Industrie die Erzählung, dass die Digitalisierung das „Wundermittel“ sei, um die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern. Der Virchowbund befürwortet Digitalisierung, bleibt aber kritisch gegenüber solchen Verheißungen. Denn die Digitalisierung hat auch eine Kehrseite. Sie macht uns abhängig und damit anfällig für Störungen und Missbrauch.
Der SVR will mit dem Gutachten „den Beitrag (…) identifizieren, den eine – im Hinblick auf das Patientenwohl verantwortlich gestaltete – Digitalisierung zum Abbau von Über-, Unter- und Fehlversorgung leisten kann.“ Um die Versorgung der Patienten zu verbessern, muss man vor allem bei der Koordination der Gesundheitsakteure ansetzen. Aus dem Gutachten gewinnt man den Eindruck, mehr Digitalisierung führe automatisch und ganz von selbst zu besserer Koordination. Das stimmt aber nicht.
Ein Beispiel sind digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA), auch bekannt als „Apps auf Rezept“ und ähnliche Technologien. Sie sollen ein integriertes System schaffen und den Verkauf der eigentlichen Produkte (z. B. Medizingeräte, Arzneimittel) steigern. „Eine Verbesserung der bestehenden Prozesse im Gesundheitssystem durch eine stärkere Patientenzentrierung steht hingegen weniger im Vordergrund, und Interoperabilität oder Datentransparenz wird oft bewusst vermieden oder konterkariert“, urteilt der SVR (SVR 2021, S. 28, Nr. 103).
Wenn immer neue Gesundheitsmarktelemente entstehen und ein Verteilungskrieg unter den Anbietern entbrennt, werden Ärzte und in der Folge auch Patienten davon eher Schaden als Vorteile haben. Ein Beispiel dafür ist die Telematik-Infrastruktur (TI). „Da es nur wenige Komponenten-Anbieter gibt, verfügt jeder Anbieter über eine gewisse Marktmacht. Daher zwingen Preis-, Mengen- und Qualitätsentscheidungen eines Wettbewerbers alle anderen Wettbewerber zu Gegenreaktionen“ (SVR 2021, S. 21, Nr. 91).
Die Kosten für die Digitalisierung im Gesundheitswesen sind bislang nicht beziffert und transparent dargestellt (SVR 2021, S. 47, Nr. 143). Neben den Kosten für Installation, Betrieb, Wartung und Weiterentwicklung müssen auch Kosten durch Ausfälle und Störungen, für Systemwechsel und Entsorgung und auch für finanzielle Schäden durch Hacker einbezogen werden.
Beim „E-Health-Kartenterminal“ zeigt sich aktuell: Die aktuell eingesetzte Technik gilt als überholt und die Hardware wird bereits nach fünf Jahren mit Ablaufdatum des Sicherheitszertifikats unbrauchbar, noch bevor mit dem „Zukunftskonnektor“ eine Nachfolgelösung auf dem Markt ist (8 % der Zertifikate laufen ab September 2022 aus, weitere 31 % im Jahr 2023). Inwiefern die TI Teil der europäischen Lösung GAIA-X sein kann, ist auch noch völlig offen.
Allein im stationären Sektor sind geschätzt 1,08 Milliarden Euro jährlich an Digital-Investitionen nötig, zusätzlich zum generellen Investitionsbedarf von ca. 5,4 Milliarden Euro jährlich. Welcher konkret bezifferbare Nutzen (medizinisch oder finanziell) steht solchen gigantischen Aufwänden gegenüber?
Länder wie Schweden, Estland, Österreich, die Niederlande, Frankreich und Polen haben bereits Erfahrungen mit digitaler Vernetzung und Datenaustausch über Varianten einer Patientenakte. Das SVR-Gutachten listet zwar positive Effekte dieser Systeme, bleibt aber eine finale Kosten-Nutzen-Rechnung jenseits der Verwaltungsebene schuldig.
Erkennbar ist: Eine Patienten-Kurzakte (International patient summary, IPS) könnte im stationären Einsatz Kosten in relevantem Umfang (12 %) einsparen, eine ausufernde ePA würde sich dagegen nicht amortisieren (SVR 2021, S. 52, Nr. 153). Entsprechende Projekte gibt es mit „AdAM“ und „eLiSa“ bereits in Deutschland.
Der SVR stellt auch fest: Erst, wenn die ePA flächendeckend und regelmäßig von Patienten und Ärzten genutzt wird, kann sich ein Nutzen für alle Beteiligten einstellen. Bleibt es dagegen dabei, dass nur ein kleiner Teil der Patienten eine ePA besitzt, bedeutet das für Ärzte deutlich mehr Aufwand im Alltag sowie weniger Behandlungssicherheit. Für Patienten ist soziale Ungerechtigkeit beim Zugang zu Gesundheitsangeboten zu befürchten (SVR 2021, S. 88, Nr. 215ff).
Auch für Gesundheitsprodukte wäre eine Kosten-Nutzen-Analyse sinnvoll, ja eigentlich sogar geboten. Hier kann das AMNOG als Vorlage dienen. Der bloße Datenaustausch ist noch kein Selbstzweck, wie auch der SVR festgestellt hat (SVR 2021, S. 113, Nr. 262).
Ein Nutzen könnte zum Beispiel sein, die Versorgungsforschung auszubauen, um mit Hilfe neuer Erkenntnisse zu einer möglichst barrierefreien und nachhaltigen Gesundheitsversorgung zu gelangen. Allerdings muss dabei die Neutralität gewahrt bleiben. Daten und Erkenntnisse dürfen nicht von Unternehmensinteressen und anderen Wirtschaftszielen korrumpiert werden.
Für die Ärzteschaft besonders wesentlich wäre eine Unterstützung der intersektoralen Versorgung, besonders für Patienten mit großem Versorgungsbedarf.
Der Virchowbund hat wiederholt betont, dass im Zusammenhang mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens dringend vertrauensbildende Maßnahmen nötig sind. Vertrauen lässt sich einerseits dadurch schaffen, dass Prozesse und Technologien datenschutzkonform aufgesetzt werden und man z. B. im Zusammenhang mit der ePA auf eine zentrale Datenspeicherung verzichtet und Speicherfristen begrenzt. Aber auch indem man Arztpraxen und Krankenhäuser durch finanzielle Unterstützung in die Lage versetzt, zeitgemäße Maßnahmen zur IT-Sicherheit zu ergreifen.
Zweitens muss auch der Nutzen sowohl für die Patienten als auch für die Ärzteschaft und weitere Gesundheitsakteure klarer unter Beweis gestellt werden. Dort, wo die Kosten-Nutzen-Analyse klar zugunsten einer digitalen Lösung ausfällt, wird diese Lösung dann auch keine Schwierigkeiten haben, Anwender zu finden und sich durchzusetzen. Denn auch der SVR hat richtig erkannt: Ohne die Akzeptanz der Ärzte wird die Digitalisierung des Gesundheitswesens nicht gelingen.
Im Gegensatz zu Politiker und Kapitalgebern fallen Ärzte auch nicht so leichtfertig auf die in leuchtenden Farben gemalten Zukunftsvisionen eines digitalen Gesundheitswesens herein. Denn sie kennen den Versorgungsalltag und wissen, dass die eigentlichen Probleme oft an ganz anderer Stelle zu finden sind. Und sie möchten sich weder durch Maschinen und künstliche Intelligenzen ersetzen lassen noch von ihnen abhängig machen. Dass Abhängigkeit schnell zu einer ernstlichen Gefahr werden kann, haben wir in den letzten Monaten im analogen wie im digitalen Bereich eindrücklich erfahren.
Dr. Frauke Wulf-Homilius freut sich über einen weiteren Austausch zum Thema Digitalisierung auf Twitter oder per E-Mail.
Der Verband der niedergelassenen Ärzte (Virchowbund) kämpft dafür, die Budgetierung zu beenden, die ärztliche Selbstverwaltung zu stärken und die Freiberuflichkeit zu erhalten. Erfahren Sie hier, was berufspolitische Arbeit für Praxis-Ärzte verändert und warum es sich für Sie lohnt.
Das könnte Sie auch interessieren: