Überversorgung ist für Ärzte ein Reizthema. Gerade Hausärzte fühlen sich schnell angegriffen. Doch bei Patienten mit unspezifischen Symptomen ist es für sie ein schmaler Grat zwischen Über- und Unterdiagnostik. Neue Positivlisten sollen bei der Entscheidung helfen.
„Als hausärztlich tätiger Allgemeinmediziner bin ich für meine Patienten die erste Anlaufstelle“, sagt Dr. Heinz K. (Name geändert) aus München zu DocCheck. Das Thema Überversorgung hört er gar nicht gerne. „Oft werde ich mit unspezifischen Symptomen konfrontiert. Handelt es sich vielleicht nicht doch um eine schwerwiegende Erkrankung?“ Wichtig sei es dann, im Sinne der Patienten zu handeln. Deshalb schließt der Kollege nicht aus, dass es – gemessen an Leitlinien – in seiner Praxis zur Überdiagnostik komme. Drei weitere befragte Kollegen wollten sich nicht äußern, das Thema ist bei Ärzten ein heißes Eisen. Jetzt haben Forscher eine aktuellen Arbeit zum Thema veröffentlicht.
„Die Aufgabe, Krankheiten zu diagnostizieren, ist gerade bei Hausärzten äußerst komplex“, so Jack O’Sullivan. Er forscht am Nuffield Department of Primary Care Health Science, University of Oxford. „In rund 40 Prozent aller Fälle kann aufgrund von Erstgesprächen und körperlichen Untersuchungen keine Diagnose gestellt werden, deshalb sind weitere Tests erforderlich.“ Jetzt hat er zusammen mit Kollegen wissenschaftliche Publikationen zur Über- sowie zur Unterdiagnostik ausgewertet. Als Goldstandard griff O’Sullivans Team auf die jeweils gültige Leitlinie zurück. Seine Literaturarbeit umfasst 63 Studien aus 15 Nationen, leider ohne Deutschland. O’Sullivan zufolge haben 44 Arbeiten ein geringes Verzerrungsrisiko, bei 15 sei der mögliche Bias moderat und bei weiteren vier sogar hoch. Keine der für folgende Kernaussagen ausgewerteten Studien hatte ein hohes Verzerrungspotenzial. Auf den weltweiten Spitzenplätzen unnötiger Untersuchungen stehen:
Dem gegenüber wurden folgende Verfahren weltweit zu selten eingesetzt:
Dass es auch in Deutschland Anlass zur Sorge gibt, zeigen Wissenschaftler anhand zweier recht unterschiedlicher Erkrankungen: Nierenerkrankungen und Depressionen. Sie haben sich nicht direkt mit der Über- oder Unterversorgung befasst, zeigen aber, vor welchen Herausforderungen Hausärzte bei der Versorgung ihrer Patienten stehen. Dr. Ingrid Gergei und Professor Dr. Winfried März vom Universitätsmedizin Mannheim haben Daten von 4.080 zufällig ausgewählten Personen unter ihre Lupe genommen. „An unserer Studie nahmen nur Patienten Teil, die aus irgendeinem Grund ihren Hausarzt aufsuchten“, so März. Sie waren im Schnitt älter, verglichen mit dem durchschnittlichen Bevölkerungsalter. In dieser Stichprobe lag die Prävalenz chronischer Nierenerkrankungen bei 28 Prozent. Betroffene litten vermehrt an koronaren Herzerkrankungen, an Diabetes mellitus und an arterieller Hypertonie. Gergei, März und Kollegen unterschieden dabei nicht zwischen bekannten oder unbekannten Nierenerkrankungen. Vielmehr machen sie auf Herausforderungen in der Praxis aufmerksam. März: „Um das Voranschreiten chronischer Nierenerkrankungen zu vermeiden, ist es wichtig, betroffene Patienten frühzeitig zu erkennen.“ Diese Aufgabe – inklusive möglicher Über- oder Unterdiagnostik – kommt auf Hausärzte zu. Mit depressiven Erkrankungen befasste sich Prof. Dr. Katja Beesdo-Baum von der Technische Universität Dresden. Sie wollte wissen, wie es um die Behandlung in der Primärversorgung bestellt ist. Ihre Stichprobe umfasste 253 Ärzte und 3.563 zufällig ausgewählte Patienten. Von ihnen hatten 451 eine leichte bis schwere Depression. 49,0 Prozent der Depressionen wurden vom Hausarzt korrekt diagnostiziert, weitere 27,9 Prozent wurden übersehen und 23,1 Prozent falsch zugeordnet (d.h., der Patienten hatte andere Erkrankungen aus dem psychiatrischen Bereich). Nach der Diagnose Depression behandelten Hausärzte rund 80 Prozent der Patienten selbst. Allerdings wurden 60 Prozent nicht leitlinienorientiert mit Antidepressiva beziehungsweise Psychotherapien behandelt. Das betraf vor allem leichte Formen der Erkrankung. Hier präferieren Leitlinienautoren psychotherapeutische Interventionen, während Hausärzte eher medikamentös arbeiteten. Beesdo-Baum spricht deshalb von einer „relevanten Unterversorgung von Patienten mit depressiven Störungen in der Primärversorgung“.
Aus ärztlicher Sicht sind Positivlisten mit sinnvollen Verfahren und Negativlisten mit abzulehnenden Methoden als Entscheidungshilfe denkbar. Dazu einige aktuelle Beispiele: „Choosing Wisely ist eine Kampagne, die Ärzte und andere Fachkräfte im Gesundheitswesen mit den Patienten in einen Dialog über unnötige Untersuchungen und Behandlungen bringen will. Damit sollen die Patienten auf einer guten Grundlage entscheiden können, was sie in ihrer Versorgung möchten und was nicht“, sagt Wendy Levinson. Die Expertin fordert, Health Professionals sollten Patienten stärker als bislang über Vorteile oder Nachteile aufklären. Das Thema betrifft Diagnostik und Therapie gleichermaßen. Auf dieser Basis treffen Patienten dann fundierte Entscheidungen. Levinson hat die Initiative zuerst in den USA und dann in Kanada mitbegründet. Bei uns setzt die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) ähnliche Aspekte als „Klug entscheiden“ um. Ihre bislang veröffentlichten Empfehlungen haben eher einen fachärztlichen Schwerpunkt. Außerdem arbeitet die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) an einer S3-Leitlinie zum „Schutz vor Über- und Unterversorgung“. „Das Ziel der Leitlinie ist die Erarbeitung einer konzisen und übersichtlichen Zusammenstellung sowie Priorisierung der wichtigsten nicht nur überflüssigen Maßnahmen und Negativempfehlungen für den hausärztlichen Bereich“, heißt es in einer Ankündigung zum Vorhaben. Bis 30. Juni 2018 soll das Dokument vorliegen. Rückfragen von DocCheck zur Über- oder Unterversorgung in Deutschland beantwortete die DEGAM-Geschäftsstelle jedoch nicht.