Leitlinien sollen Ärzten und Apothekern vorgeben, wie sie Patienten bestmöglich behandeln. Das aktuelle System erntet erneut Kritik. Grund sind neue orale Antikoagulanzien. Health Professionals fordern, nicht nur Interessenskonflikte anzugeben, sondern Konsequenzen zu ziehen.
Neue Arzneimitteldaten der Techniker Krankenkasse (TK) sorgten bei Apothekern und Ärzten für großen Unmut. Ein Großteil aller Patienten mit Vorhofflimmern erhielt zu Beginn der Therapie nicht – wie eigentlich zu erwarten gewesen wäre – Cumarin-Derivate als Vitamin-K-Antagonisten. Vielmehr verordneten Ärzte sofort neue orale Antikoagulation (NOAK). Eigentlich sind klassische Vitamin-K-Antagonisten wie Phenprocoumon die erste Wahl. Laut Informationen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) sollten Mediziner NOAK nur rezeptieren, falls Patienten mit Cumarinverbindungen schwer einstellbar sind, ein erhöhtes Risiko arzneimittelbedingter Indikationen aufweisen oder ihren INR-Wert (International Normalized Ratio) nicht regelmäßig kontrollieren. „Die NOAK haben in den meisten Fällen keine Vorteile für die Patienten, trotzdem wurden 2014 fast doppelt so viele Tagesdosen verschrieben wie im Vorjahr“, kritisiert Tim Steimle, Leiter des Fachbereichs Arzneimittel bei der TK. Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Zum Hintergrund: Mittlerweile gibt es bei den Indikationen Thromboseprophylaxe und Vorhofflimmern drei zugelassene NOAK, nämlich Dabigatran (Pradaxa®), Rivaroxaban (Xarelto®) und Apixaban (Eliquis®). Um deren Mehrwert zu quantifizieren, fehlten TK-Angaben zufolge Daten aus direkten Vergleichsstudien. Die ökonomische Konsequenz: NOAK sind deutlich teurer als klassische Cumarinabkömmlinge – mit Tagestherapiekosten von mehr als 3,00 Euro versus 0,20 Euro. Auslöser dieser Entwicklung ist die S3-Leitlinie „Sekundärprävention ischämischer Schlaganfall und transitorische ischämische Attacke“ unter Beteiligung von 19 Fachgesellschaften und Verbänden. Mögliche Interessenkonflikte der Akteure werden lege artis offengelegt, jedoch ohne erkennbare Konsequenzen. Dazu ein Blick auf den Leitlinienreport: „Alle Mitglieder der Leitliniengruppe gaben an, dass keine bedeutsamen Interessenkonflikte sie an der Teilnahme an dem Leitlinienvorhaben hindern würden. [...] Die Evaluation aller Erklärungen wurde abschließend auf der zweiten Konsensuskonferenz diskutiert, mit dem Ergebnis, dass keine Interessenkonflikte vorlagen, die einen Ausschluss aus der Leitliniengruppe nach sich gezogen hätten. Falls ein stimmberechtigtes Mitglied aufgrund von Interessenkonflikten bei der Konsentierung der Empfehlungen einzelner Schlüsselfragen nicht unbefangen abstimmen konnte, bestand die Auflage, dass sich der- bzw. diejenige bei dieser Abstimmung enthalten würde.“
Am Ende dieses Prozesses entstanden Empfehlungen für die Praxis, etwa zu NOAK. „Die neuen Antikoagulantien (d. h. Dabigatran, Rivaroxaban und Apixaban) stellen eine Alternative zu den Vitamin-K-Antagonisten dar und sollten aufgrund des günstigeren Nutzen-Risiko-Profils zur Anwendung kommen (Empfehlungsgrad B)“, heißt es in der Leitlinie. „Die Entscheidung fiel mit zehn zu neun Stimmen bei vier Enthaltungen äußerst knapp“, kritisiert MEZIS in einer Stellungnahme. Unter allen 23 stimmberechtigten Mitgliedern hatten zehn Personen Beraterverträge mit Firmen, die NOAK herstellen. Weitere sechs Experten bekamen aus der gleichen Ecke Honorare für Vorträge. Insgesamt gab es bei der Abstimmung vier Enthaltungen. Ob entsprechende Verstrickungen tatsächlich das Urteilsvermögen getrübt haben, weiß niemand. Risiken bleiben bestehen – inklusive Zweifeln an der Glaubwürdigkeit von Leitlinienempfehlungen. Ein Blick auf internationale Leitlinien zeigt beispielsweise, dass die American Heart Association herkömmlichen Vitamin-K-Anatagonisten einen höheren Empfehlungsgrad als NOAK zuspricht. Jetzt ist guter Rat teuer.
„Der häufig vorgebrachte Einwand, dass es in den Fachgesellschaften keine Pharma-unabhängigen Experten mehr gäbe, ist für uns keine überzeugende Rechtfertigung, sondern ein behandlungsbedürftiger Befund“, so Professor Dr. Thomas Lempert von NeurologyFirst. Für MEZIS, Transparency International und NeurologyFirst reicht es nicht aus, Interessenkonflikte kommentarlos aufzulisten. Sie fordern eine stärkere Regulierung – und bringen mehrere Ideen in das Gespräch. Mindestens 50 Prozent aller Leitlinienautoren sollten künftig keine oder allenfalls geringfügige Interessenkonflikte haben. Wer mit Herstellern zusammenarbeitet, müsste sich den Empfehlungen zufolge bei Abstimmungen enthalten. Federführenden Wissenschaftlern bliebe nur, sich für die Arbeit an einer Leitlinie zu entscheiden – oder für Hersteller zu arbeiten. Ohne klare Regeln zur Bewertung der Schwere möglicher Verstrickungen wird das System kaum funktionieren. Bleibt noch, Leitlinienentwürfe in Fachgesellschaften auf breiter Basis zu diskutieren – und nicht in elitären Zirkeln.