Substanzen mit Abhängigkeitspotenzial sind längst in Deutschlands Heimen angekommen. Etwa 14 Prozent aller zu pflegenden Personen haben Alkohol- oder Medikamentenprobleme. Arbeiten Health Professionals eng zusammen, gibt es Wege aus dem Teufelskreislauf.
Aktuelle Zahlen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS): Im letzten Jahr starben bundesweit 1.032 Menschen durch Betäubungsmittel. Hinzu kamen 74.000 Opfer durch Alkohol oder durch den kombinierten Konsum von Alkohol und Tabak. „Weltweit ist Alkohol inzwischen die fünfthäufigste Ursache für Tod und Behinderungen: Übermäßiger Alkoholkonsum tötet mehr Menschen als HIV/Aids, Gewalt und Tuberkulose zusammengenommen“, so ein WHO-Sprecher bei der Vorstellung des neuen Gesundheitsberichts. Experten am Bundesministerium für Gesundheit (BMG) rechnen im Rahmen verschiedener Modellprojekte mit bis zu 400.000 älteren Alkoholabhängigen. Nicht immer fallen Betroffene auf. Senioren leben häufig allein, ohne soziale Kontakte. Sie selbst und ihr Umfeld deuten körperliche und seelische Symptome der Abhängigkeit als vermeintliche Folgen des Alterns. Grund genug für das BMG, Fachkräfte in der Pflege stärker zu sensibilisieren. Ein Fazit: Alkoholbezogene Interventionen sind in der ambulanten oder stationären Pflege durchaus möglich, falls alle Beteiligten an einem Strang ziehen.
Ethanol ist nur ein Thema – nicht selten greifen ältere Menschen zu Medikamenten. Häufigkeit, Dauer oder Indikation entsprechen nicht der Zulassung. Schätzungsweise vier bis fünf Prozent aller Pharmaka besitzen in diesem Kontext nennenswerte Suchtpotenziale. Ärzte verschreiben zwar weniger Benzodiazepine. Im gleichen Atemzug steigt die Menge abgegebener „Z-Substanzen“ (Zolpidem, Zopiclon, Zaleplon) rapide an. „Doch das Nutzen-Schaden-Potenzial von Z-Drugs ist insgesamt nicht besser als das der Benzodiazepine“, kritisieren DHS-Experten in einer Stellungnahme. Hypnotika wiederum landen eher auf Privat- als auf Kassenrezepten. Bei Tranquilizer-Verordnungen rechnet die DHS mit mehr als 50 Prozent an Privatverordnungen. Damit wird es schwierig, genaue Zahlen anzugeben. Schätzungsweise 1,5 bis 1,9 Millionen Menschen sind von unterschiedlichen Pharmaka abhängig – meist Senioren. Verschiedenen Suchtsurveys zufolge nehmen 0,5 Prozent aller Menschen über 60 Schlafmittel missbräuchlich ein, und 0,2 Prozent sind abhängig. Missbrauch (0,6 Prozent) und Abhängigkeit (0,8 Prozent) sind bei Beruhigungsmitteln häufiger zu finden. Daraus resultieren Symptome wie Gangunsicherheiten, Stürze, Schwindel, Ängste, Depressionen oder Stimmungsschwankungen bis hin zur Aggressivität. Bleibt als Lösung für Pflegekräfte, Beobachtungen im Team zu diskutieren und Ärzte beziehungsweise Apotheker zu kontaktieren. Patienten profitieren von einem umfassenden Medikationsmanagement. Speziell bei sedierenden Pharmaka macht die „4K-Regel“ Sinn: klare Indikation, korrekte Dosierung, kurze Anwendung und kein abruptes Absetzen. Das Thema betrifft primär Ärzte. Sehen Apotheker eklatante Verstöße, etwa bei Stammkunden, sollten sie pharmazeutische Bedenken geltend machen und vor der Abgabe Rücksprache mit Praxen halten.
Die nächste Problematik: Wie Daten aus Behandlungseinrichtungen zeigen, diagnostizieren Ärzte immer häufiger bei älteren Menschen „psychische und Verhaltensstörungen durch Opioide“ (ICD-10-GM: F11). Jenseits des 60. Lebensjahres konsumieren 0,1 Prozent aller Menschen Cannabis, und weitere 0,2 Prozent andere illegale Drogen. Ihre Lebenserwartung steigt – nicht zuletzt dank pharmazeutischer und medizinischer Fortschritte. Was tun? Apotheker und Ärzte hatten wiederholt kritisiert, sich bei Drogenersatztherapien im rechtlichen Graubereich zu bewegen. Manche Vorschriften wurden seit 20 Jahren nicht geändert worden. Unter dem Motto „Warum das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) aus suchtmedizinischer Sicht auf den Prüfstand gehört" meldet sich auch die Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS) zu Wort. Ein Aspekt, der besonders für ältere Patienten relevant ist: „Das Abstinenzdogma ist gefallen“, schreiben Suchtmediziner. „In dieser Zielhierarchie steht die stabile Abstinenz heute nach der Sicherung des möglichst gesunden Überlebens, der Reduzierung des Konsums und der Verlängerung abstinenter Perioden nicht mehr an erster Stelle.“ Jetzt sind Regierungsvertreter in Berlin aufgewacht. Ein neues Eckpunktepapier des Bundesgesundheitsministeriums zeigt, wohin die Reise geht. Künftig soll Pflegepersonal in Heimen Substanzen zur Substitutionstherapie verabreichen dürfen. Hermann Gröhes Haus plant außerdem, stationäre Reha-Einrichtungen und Gesundheitsämter mit der Therapie zu beauftragen. Patienten selbst sollen, falls ihre Behandlung schon erfolgreich fortgeschritten ist, den Bedarf für bis zu 30 Tage zur selbstständigen Einnahme erhalten. Momentan sind sieben Tage das Höchste der Gefühle. Warten wir auf den Paradigmenwechsel.