Auch in diesem Jahr erwarten Experten neue Zulassungen der Europäischen Arzneimittel-Agentur. Mehrere Präparate gegen Krebs, Migräne oder Blutgerinnungsstörungen stehen kurz vor ihrer Zulassung und könnten eine milliardenschwere Kostenlawine ins Rollen bringen.
Das Jahr 2017 war für forschende Hersteller mehr als fruchtbar. Laut Angaben des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (vfa) wurden 31 Medikamente mit neuen Wirkstoffen zugelassen. Sie richten sich gegen Krebserkrankungen (11 Pharmaka), Entzündungen (10), Infektionen (4), Gerinnungsstörungen (2), neurologische Leiden (2), Herz-Kreislauf- sowie Stoffwechselleiden (je 1). Der Statistik-Dienstleister Statista erwartet, dass die 10 umsatzstärksten Innovationen aus dem Jahr 2017 bis 2022 weltweit zu knapp 22 Milliarden US-Dollar an Umsatz führen. Ein Ende der Neuzulassungen ist nicht in Sicht. Auch für 2018 rechnen vfa-Experten mit 30 oder mehr neuen Präparaten. Arzneimittel mit onkologischen Indikationen stehen hier wenig überraschend im Fokus. Markteinführung neuer Wirkstoffe in Deutschland © vfa
In diesem Zusammenhang sind nach wie vor Mammakarzinome mit mit bundesweit knapp 70.000 Neuerkrankungen pro Jahr besonders relevant. Schon jetzt sind die Überlebenschancen gut, was die weitere Therapieverbesserungen extrem erschwert. Neratinib, ein neuer Tyrosinkinase-Inhibitor, soll die Situation bei speziellen Genmustern, also bei HER2-positivem Brustkrebs, weiter optimieren. Um Verbesserungen nachzuweisen, nahmen Forscher 2.840 Patientinnen in eine klinische Phase-3-Studie auf. Sie erhielten als adjuvante Therapie den bereits zugelassenen Antikörper Trastuzumab und danach Neratinib oder Placebo. Der Unterschied war statistisch signifikant, aber in absoluten Zahlen gemessen eher gering. Nach zwei Jahren hatten 94,2 versus 91,9 Prozent aller Studienteilnehmerinnen kein Rezidiv. Dafür mussten sie zahlreiche dermatologische oder gastrointestinale Nebenwirkungen ertragen. Bei 16,8 Prozent kam es unter Verum zu schweren Durchfällen. Trotzdem hat die FDA bereits ihren Segen gegeben. Nach Angaben des Medienkonzerns Thomson Reuters soll sich der zuständige Ausschuss für EMA-Humanarzneimittel aber negativ geäußert haben. Neratinib schlägt mit monatlichen Therapiekosten von mehr als 10.000 US-Dollar, sprich 120.000 US-Dollar pro Jahr, zu Buche. In Deutschland haben von 70.000 Patientinnen mit Mammakarzinom rund 15.000 eine HER-positive Form. Erhält theoretisch jede zweite dieser Frauen Neratinib, führt das zu 750 Millionen Euro Mehrausgaben.
Neben spezifischen Inhibitoren spielen auch Krebs-Immuntherapien bei den Neuzulassungen eine zentrale Rolle. Laut Zahlen der American Society of Clinical Oncology (ASCO) treten in den USA bei 600 Kindern und jungen Erwachsenen mit akuter lymphatischer Leukämie Rezidive auf. Erfolgreiche Interventionen führen bei dieser speziellen Gruppe nur selten zum Erfolg. In einer klinischen Studie führte Tisagenlecleucel bei 52 von 63 Patienten (82 Prozent) zur Remission und 75 Prozent waren nach 6 Monaten noch rezidivfrei. Zuvor schwankten die Raten zwischen 20 und 33 Prozent. Bei Tisagenlecleucel handelt es sich um eine personalisierte Therapie. Ärzte gewinnen aus dem Blut von Patienten T-Zellen. Im Labor schleusen sie mithilfe von Lentivirus-Vektoren das Gen für den CD19-Rezeptor in die T-Zellen ein. Der Rezeptor richtet sich gegen das speziell von malignen Leukozyten hergestellte Oberflächenprotein CD19. Dieses drastische Wirkprinzip bleib nicht ohne Folgen. Bei knapp jedem zweiten Patienten kam es zum Zytokinfreisetzungssyndrom. Botenstoffe (Zytokine) werden in großer Menge freigesetzt. Dadurch leiden Patienten an Fieber, niedrigem Blutdruck, Atembeschwerden und Organversagen. Häufig müssen Patienten auf der Intensivstation versorgt werden. ASCO-Experten halten Komplikationen mit Todesfolge für möglich, wobei in den zulassungsrelevanten Studien niemand starb. Mit Tocilizumab steht Ärzten jetzt ein wirksames Medikament gegen Zytokinstürme zur Verfügung. Der humanisierte monoklonale Antikörper richtet sich gegen den Interleukin-6 (IL-6)-Rezeptor und bremst die Wirkung von Entzündungsmediatoren. Grund genug für US-Behörden, Tisagenlecleucel plus Tocilizumab bei B-Zell-ALL zuzulassen. Onkologen bewerten CAR-T-Zelltherapien bei der speziellen Patientengruppe als effektiv, aber auch als riskant. Und mit mindestens 475.000 US-Dollar pro Kopf ist das Verfahren nicht gerade preiswert. Bei schätzungsweise 100 Patienten pro Jahr kommt man auf 40 bis 50 Millionen Euro.
Während sich CAR-T-Zelltherapien nur für handverlesene Patienten eignen, sieht es bei therapierefraktärer Migräne ganz anders aus. Die Prävalenz liegt bei 18 (Frauen) bzw. 6 Prozent (Männer). Jeder 100. Patient leidet an chronischen Formen mit wiederkehrenden Beschwerden. Hier tut sich ein gewaltiger Markt auf. Forschende Hersteller haben das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP), ein Neuropeptid, als neue Zielstruktur entdeckt. CGRP wird während einer Migräneattacke freigesetzt und zählt zu den stärksten blutgefäßrelaxierenden Substanzen. Das Signal könnte über Dehnungsrezeptoren vom Gehirn als Schmerz identifiziert werden. In Studien untersuchten Forscher zwei unterschiedliche Herangehensweisen: Entweder wurde CGRP mit Antikörpern abgefangen oder dessen Bindungsstelle wurde blockiert. Von 1.130 Patienten mit chronischer Migräne erhielten 376 Patienten Fremanezumab als Einmalgabe, gefolgt von Placebo. Weitere 379 Personen bekamen Fremanezumab monatlich, und 375 schluckten nur Placebo. Nach drei Monaten verringerte sich die Zahl an Kopfschmerztagen jeglicher Ursache um 4,3 versus 4,6 versus 2,5 Tage. Die Migränetage halbierten sich bei 38 bis 41 Prozent (Placebo: 18 Prozent). Fremanezumab richtet sich als monoklonaler humanisiertes Antikörper direkt gegen das CGRP. Im Rahmen einer weiteren Phase-3-Studie mit 955 Patienten wurde Erenumab bei episodischer Migräne untersucht. 317 von ihnen erhielten monatlich 70 mg Erenumab, weitere 319 monatlich 140 mg und 319 nur ein Placebo. Die durchschnittliche Zahl an Migränetagen verringerte sich um 3,2 versus 3,7 versus 1,8 Tage pro Monat. Der Antikörper blockiert CGRP-Rezeptoren. Erenumab und Fremanezumab haben laut Einschätzung von Andrew D. Hershey die Anfallsfrequenz nur mäßig verringert. Der Forscher arbeitet am University of Cincinnati College of Medicine. Aufgrund der guten Verträglichkeit sieht Hershey jedoch einen Mehrwert zur langfristigen Migräneprophylaxe. Auch das könnte teuer werden. Vergleichbare Antikörper, von denen es keine Biosimilars gibt, bewegen sich zwischen 2.000 und 5.000 Euro pro Monat. Deutschlandweit leiden 18 Millionen Menschen an Migräne. Erhalten nur 100.000 von ihnen Antikörper, entspricht das mindestens 2,5 Milliarden Euro pro Jahr.
Hohe Kosten könnte Emicizumab-kxwh zur Therapie der Blutgerinnungsstörung Hämophilie A verursachen. Patienten erhalten derzeit gentechnisch hergestellte Faktor-VIII-Präparate zur Substitution. Rund 30 Prozent von ihnen bilden mittelfristig neutralisierende Antikörper gegen diese Proteine. Sie könnten von Emicizumab-kxwh profitieren. Das Biologikum kommt im menschlichen Körper nicht vor. Es hat Faktor-IXa- und Faktor-X-Bindungsstellen und simuliert den Faktor VIII. In ihrer Pressemitteilung nennt die FDA zulassungsrelevante Phase 3-Studien mit 109 Jugendlichen und Erwachsenen bzw. 23 Kindern. Blutungen konnten um etwa 87 Prozent reduziert werden. Gleichzeitig klagten Patienten seltener über Gelenkschmerzen oder Schwellungen. Diesen wünschenswerten Eigenschaften stehen Kosten von 450.000 bis 480.000 Dollar pro Kopf und Jahr gegenüber. Bei Patienten unter zwölf Jahren seien im gleichen Zeitraum Einsparungen von 720.000 Dollar zu erwarten, schreibt der Hersteller. Deutschlandweit leiden etwa 3.375 Patienten an Hämophilie A. Würden nur 30 Prozent den neuen Antikörper erhalten, würde das zu Mehrkosten von 500 Millionen Euro an führen. Eine baldige Zulassung in Europa ist wahrscheinlich.
Je nach genauer Indikation und Nutzenbewertung der Neuzulassungen kommen auf Hersteller mehrere Milliarden Euro zu. Hersteller dementieren den Vorwurf der Preistreiberei mit dem Hinweis auf steigende Entwicklungskosten. Joseph DiMasi von der amerikanischen Tufts University nennt Entwicklungskosten von 2,6 Milliarden Dollar pro Präparat, Stand 2014. Im Jahr 2003 waren es noch 802 Millionen Dollar, was kaufkraftbereinigt heute einer Milliarde Dollar entsprechen würde. Auf Krankenversicherungen kommen also große Herausforderungen zu.