Viele Ärzte sind kränker als ihre Patienten. Aus Angst, den Anforderungen von Vorgesetzten, Patienten und an sich selbst nicht mehr gerecht zu werden, helfen sich zahlreiche Ärzte selbst – und das meist ausschließlich. Kostendruck und Personalmangel verstärken das Problem.
Ärzte haben gute Chancen auf ein außergewöhnlich langes Leben. Medizinhistoriker Professor Robert Jütte schreibt in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift: „Journalisten, Psychologen und Chemiker haben eine deutlich geringere Lebenserwartung als Ärzte, Ingenieure oder gar Geistliche, wie eine groß angelegte Studie des Schweizer Bundesamts für Statistik nachwies.“ Während Männer der Gesamtbevölkerung in Deutschland im Schnitt eine Lebenserwartung von 79,5 Jahren haben, erreichen Ärzte durchschnittlich ein Alter von 83,9 Jahren. Frauen der Gesamtbevölkerung werden im Durchschnitt 83,7 Jahre alt, Ärztinnen sogar 87,1 Jahre. Diese Zahlen implizieren zunächst, dass Ärzte aufgrund der längeren Lebenserwartung auch gesünder sind als die Gesamtbevölkerung – ein Trugschluss.
Wenn Sie nicht gegen Hepatitis und Grippe geimpft sind, gehören Sie zum Großteil der Ärzte, die darauf ebenfalls keinen Wert legen. Treiben Sie Sport oder bewegen Sie sich regelmäßig? Jeder fünfte Arzt hat dafür entweder keine Zeit oder findet keinen Gefallen daran, wie Recherchen der „Welt“ ergeben haben. Wider besseren Wissens verzichtet die Hälfte der Ärztinnen sogar darauf, regelmäßig ihre Brüste abzutasten. Von 4.000 von der Universität Los Angeles befragten Ärzte soll zudem jeder zweite angegeben haben, keinen Hausarzt zu haben. Einer Erhebung der Europäischen Gemeinschaft zufolge raucht hierzulande jeder vierte Arzt. Auch Alkoholmissbrauch ist unter den Medizinern weit verbreitet: Laut Schätzungen sind in Deutschland 8.300 Ärztinnen und Ärzte alkoholabhängig.
Auch um die seelische Gesundheit von Ärzten könnte es besser stehen. Eine Umfrage unter Schweizer Allgemeinmedizinern ergab: 43 % der Ärzte bestätigen, einen Kollegen persönlich gekannt zu haben, der Suizid begangen hat. Fast ein Drittel (28 %) erklärten, sie hätten selbst eine suizidale Phase durchgemacht. 5 % der Ärzte hatten aktuell Suizidgedanken.
Den Großteil ihrer Zeit verbringen Ärzte damit, sich um die Gesundheit anderer zu kümmern. Doch warum verweigern sich Ärzte häufig dem, was sie ihren Patienten dringend empfehlen würden? Oft lässt es der Arbeitsalltag eines Arztes kaum zu, erholsame Pausen zu machen, einfach einmal „nein“ zu sagen, wenn gerade alles zu viel wird. „Wenn ich natürlich jahrelang von früh um sieben bis in die Nacht halb elf arbeite, meldet sich irgendwann der Körper. Und das ist ja oft so, dass bei Ärzten gerade psychosomatische Beschwerden ignoriert werden oder mit eigenen Mitteln und Methoden, die man eben so kennt, bekämpft werden“, sagte Psychiater Peter Lippmann gegenüber dem Deutschlandfunk. Kostendruck und Personalabbau in vielen Kliniken verschärften das Problem. Arbeitszeiten von bis zu 80 Stunden in der Woche, Schicht- und Bereitschaftsdienste reißen Ärzte nicht selten aus ihrem sozialen Umfeld und machen ein Privatleben nahezu unmöglich. Partnerschaften scheitern, Familien zerbrechen – außerhalb des Berufs stellt sich Einsamkeit ein.
Viele Ärzte tun sich schwer, im Krankheitsfall Hilfe von Kollegen anzunehmen. Eine schriftliche Umfrage des Universitätsspitals Genf ergab: Von 1.784 befragten Schweizer Ärzten wollte sich jeder Dritte nicht von anderen Ärzten behandeln lassen. Doch warum scheint die Selbstbehandlung der sicherste Weg aus der Krankheit zu sein? „In die Patientenrolle zu schlüpfen erzeugt bei vielen Kollegen ein unbehagliches Gefühl. Denn damit zeigt man, sich in einem bestimmten medizinischen Gebiet nicht gut genug auszukennen, um sich selbst behandeln zu können“, erklärt Anästhesistin Dr. Christiane Ambs. Von den Schweizer Medizinern gab nur jeder Fünfte an, einen Hausarzt zu haben. Die Hälfte der Befragten hatte im letzten Jahr darauf verzichtet, sich von einem Kollegen wegen gesundheitlicher Probleme behandeln zu lassen. Von denen, die es doch wagten, vertrauten sich 13 Prozent ihrem Hausarzt, 8 Prozent einem Psychiater oder Psychologen und 28 Prozent einem anderen Arzt an. Immerhin 57 Prozent der Ärztinnen hatten im letzten Jahr einen Gynäkologen aufgesucht. 90 Prozent der befragten Ärzte und Ärztinnen gaben an, sich selbst zu behandeln. 65 Prozent von ihnen hatten sich in den letzten sieben Tagen sogar mit Medikamenten therapiert – ein Drittel davon griff zu Schmerzmitteln, 14 Prozent zu Beruhigungsmitteln und 6 Prozent zu Antidepressiva. „Lässt man sich von einem Kollegen behandeln, schwingt stets die Angst mit, er könne etwas Wichtiges übersehen oder eine falsche Diagnose stellen“, so Ambs. Auch das Wissen um medizinische Extremfälle lasse Ärzte entweder zu Hypochondern oder Verdrängern werden. „Bei starken Kopfschmerzen schleichen sich auch Gedanken an einen nicht operierbaren Hirntumor ein, obwohl es sich wahrscheinlich nur um eine Nackenverspannung handelt“, so die Anästhesistin. Warum Ärzte – aller Abhängigkeiten, Krankheiten und Wehwehchen zum Trotz – rein statistisch betrachtet trotzdem länger leben als Vertreter anderer Berufsgruppen, bleibt weiterhin ungeklärt.