Ich geb's zu: Ich bin coronamüde. Die Läden haben bei uns in der Schweiz wieder offen, das Leben wird „normaler“. Aber dann lese ich einen Satz, der mir durch Mark und Bein geht.
Ich bin coronamüde, da bin ich ganz ehrlich. Im täglichen Leben bekommt man aktuell hier nicht mehr so viel mit von der Covid-Situation. Die Erkrankten verschwinden still in den Spitälern (die gelegentlichen Sanitätsautos, die man jetzt irgendwie häufiger sieht, ignoriert man gekonnt).
In unserer Apothekenkundschaft hören wir weniger von Verstorbenen. Die Läden haben mehrheitlich wieder offen. Die Restaurantterassen haben wieder auf. Man könnte meinen, wir seien auf dem Weg aus der Covid-Krise. Endlich.
Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite lese ich dann ein paar Zeilen, die mich wieder aufrütteln.
In meiner Twitter- und Facebook-Bubble sehe ich immer mehr Hilferufe von Ärzten, Sanitätern und Pflegepersonal, die kämpfen: mit bis über die Kapazität gefüllten Intensivstationen und Suche nach noch offenen Plätzen und Verschiebungen zwischen den Spitälern. Mit Überarbeitung und der ganzen psychologischen Belastung, die das mit sich bringt.
Twitter ist sehr schnell im Informieren. Leider sind die Sachen auch so schnell wieder „weg“. Ich finde den Tweet nicht mehr von dem Sanitäter, der in 19 (!) Spitälern anfragen musste, bis er einen Platz für seinen Patienten fand. Hier und weg. Manchmal verschwinden solche Tweets auch wegen des enormen Gegenwinds, den sie bekommen. Auf derartige Tweets gibt es dann so Reaktionen wie „Ihr macht doch nur Panik.“
Ich höre und lese davon, dass die Leute, die jetzt auf die ITS kommen oder beatmet werden müssen, nicht mehr die Großeltern-Generation ist, nicht mal mehr die Eltern-Generation … es sind vermehrt Leute in meiner Altersklasse (Tendenz noch niedriger). Mütter und Väter von kleinen Kindern. Und die sterben genau so, wie die Alten in der zweiten Welle. Das liegt nicht nur an der (in der höheren Altersklasse erfolgreichen) Impfung. Das liegt auch an den ansteckenderen (und gefährlicheren?) neuen Virusmutationen, die im Umlauf sind.
Ich erinnere mich an einen Tweet von einer Frau, die eben ihren 23-jährigen Cousin verloren hatte. Er war zu Hause wegen Covid, offenbar gab es eine abrupte Verschlechterung seines Zustands – er starb alleine. Die Sauerstoffsättigung kann ziemlich schnell schlecht werden und hat akute Auswirkungen, nicht nur auf den Allgemeinzustand, sondern auch auf die Entscheidungsfähigkeit. „Happy Hypoxie“ ist ein Begriff, der in diesem Zusammenhang genannt wird – man merkt den Sauerstoffmangel nicht bzw. zu spät.
Woran liegt es, dass es jetzt vermehrt Jüngere trifft? Daran, dass das Ansteckungsgeschehen jetzt „unter uns“ stattfindet. Arbeitnehmer und Kinder können angesteckt werden und stecken dann die Kinder bzw. die Eltern an. Schulen und Kitas sind nicht mehr nur potentielle Infektionsherde. Ich lese von besorgten Eltern, die ihre Kinder nicht mehr da hin schicken wollen, deshalb – und davon, wie in manchen Schulen damit umgegangen wird.
Bei uns finde ich das noch einigermaßen vernünftig: Ein Mal pro Woche wird klassenweise getestet (im Pool) – ist der Test positiv, wird benachrichtigt, in Quarantäne gesetzt und die Kinder einzeln getestet. An anderen Orten gibt es keine Tests, wird bei positivem Befund … gar nichts gemacht? Überall ist es unterschiedlich, die Behörden kommen aber (selbst wenn) kaum mit dem Benachrichtigen der Kontaktpersonen nach. Die Covid-App … funktioniert die eigentlich noch?
So, das haben wir: auf der einen Seite das Erleben der Mitarbeiter im Gesundheitsdienst, die an den Spitaleingängen sehen, wie das Infektionsgeschehen ist. In derselben Richtung die besorgten Eltern, die mitbekommen, wie die Schulen geöffnet werden, die Inzidenz steigt, klassenweise Ansteckungen stattfinden – und nicht wirklich etwas dagegen unternommen wird, die Ansteckungsketten zu unterbrechen oder die Eltern zu schützen (auch wenn positive Kinder zum Glück selber immer noch wenig Symptome haben, Folgeschäden sind auch hier ein Thema).
Und auf der anderen Seite diejenigen, die halt im Alltag kaum etwas davon mitbekommen, außer den Einschränkungen, denen sie unterliegen. Das scheint von der Politik auch so gewollt zu sein – oder wie erklärt man sich sonst, dass in der Situation nicht adäquat reagiert wird? Oder zumindest richtig informiert? Stattdessen wird geöffnet und erleichtert.
Ich bin Coronamüde. Ich wäre sehr dafür, dass das bald vorbei ist. Aber: die Situation ist nicht gut im Moment. Die Krankheit ist (immer noch) da, und (immer noch) gefährlich. Ich will nicht angesteckt werden. Ich möchte eine Impfung, dass ich auch geschützt bin (ich würde auch Astra Zeneca nehmen). Ich möchte auch nicht, dass sich andere anstecken, krank werden und eventuell im Spital landen.
Ich möchte nicht in einer Zeit leben, in der man eigentlich keinen Unfall haben darf oder sonst krank werden, weil kein Platz und keine Leute, keine Kapazitäten mehr frei sind, die sich im Fall um einen kümmern können. Weil das Gesundheitssystem überlastet ist – und keiner darüber redet (außerhalb der Bubble), weil „Panikmache“ und Fake News und was einem sonst noch alles vorgeworfen wird.
Also (auch wenn das außerhalb „meiner“ ohnehin gut informierten Bubble kaum jemand lesen wird): Dass nun wieder geöffnet wird, passiert gegen jegliche Vernunft und Evidenz. Das bedeutet nicht, Covid ist weg. Nicht mal, dass es jetzt besser ist mit den Ansteckungen und den Spitaleinweisungen. Bitte bleibt vorsichtig.
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