Anomalien im Erbgut lösen Krebs aus – so lautet seit 100 Jahren das Paradigma von Forschern und Onkologen. Diese Theorie ist laut Kritikern überbewertet. Entzündungen spielen eine stärkere Rolle als bislang vermutet. Wurde zu lang in die falsche Richtung geforscht?
Die Onkologie macht rasante Fortschritte – aber nicht in allen Bereichen. Bei der Erforschung der Ursache sowie bei der Behandlung verschiedener Krebsarten gibt es drastische Unterschiede. Bei malignen Erkrankungen des Hodens, der Haut, der Schilddrüse, der Brust oder bei Morbus Hodgkin leben nach zehn Jahren mehr als 80 Prozent aller Patienten. Deutlich schlechter sieht es u.a. bei Tumoren der Lunge, der Leber beziehungsweise der Speiseröhre aus. „Wir müssen mehr tun und besser werden“, sagt der Tumorchirurg und -Forscher Professor Dr. Björn Brücher von der Theodor-Billroth-Akademie. Zusammen mit seinem US-Kollegen Dr. Ijaz S. Jamall hat er 2014 und 2016 beachtenswerte Artikel veröffentlicht. Beide Forscher kritisieren nicht nur die Überbewertung der somatischen Mutationstheorie zur Krebsentstehung, sondern berücksichtigen Erkenntnisse der Zell-Zell-Kommunikation für eine plausiblere Krebs-Hypothese und verbinden dies mit einer neuen Anti-Krebs-Strategie. Grafik © Krebs in Deutschland / Robert Koch-Institut
Angehende Ärzte lernen schon im Studium folgende Hypothese kennen: Bei der Zellteilung (Replikation) wird eine DNA-Kopie erstellt. Diesen Prozess begleiten Tumorsuppressorgene. Ihr Name deutet auf ihre Eigenschaft hin – sie sollen maligne Entartungen unterdrücken. Sie überwachen u.a., ob ein DNA-Einzelstrang als Matrize korrekt abgelesen wurde oder ob Reparaturen erforderlich sind. Gegebenenfalls stoppen sie den Zellzyklus, also den periodischen Ablauf verschiedener Ereignisse bis zum Abschluss einer Zellteilung. Sollten alle Stricke reißen, treiben manche Genprodukte Zellen auch in den induzierten Zelltod, die Apoptose. Daneben gibt es noch Onkogene. Sie fördern Zellwachstum und Zellteilung. Nach dem Mutationsmodel sind Gen-Veränderungen das primäre Krankheitsereignis. Professor Dr. Björn Brücher © privat Brücher: „Richtig war, ist, und bleibt, dass man in Tumorgewebe Mutationen findet, aber es resultierten falsche Schlussfolgerungen. Das wäre so, als wenn wir einen Apfel in einem Auto finden und deklarieren, Äpfel wachsen in Autos“. Der Forscher ergänzt: „Hier besteht ein signifikanter Unterschied in der Wissenschaft: die richtige Beobachtung versus die Schlussfolgerung“.
Das hat Folgen für die Praxis: „Bei fünf bis zehn Prozent der Tumore ist bewiesen, dass Mutationen ursächlich sind, bei 15 Prozent eine Infektion, aber 80 Prozent – die Mehrheit an Tumoren – gelten als sporadisch, das heißt, ihre Ursache ist unbekannt“, sagt Brücher. Je nach Tumor bestehen große Unterschiede. Bei Magenkrebs sind weniger als ein Prozent, bei Dickdarm drei bis fünf Prozent und bei Brustkrebs acht Prozent mit Änderungen im Erbgut bewiesen. „Die erstmals 1928 vertretene, mutige Meinung, dass Mutationen Krebs auslösen, verselbstständigte sich innerhalb der letzten 50 Jahre zu einem Dogma“, so der Experte weiter. Wissenschaftliche Fakten aus Zell-Zell-Kommunikation, der Genomik und der Epigenetik blieben weitgehend unbeachtet. Bei der Auswertung von 31.717 Krebsfällen und 26.136 Kontrollen aus 13 Genom Studien zeigte sich, dass in beiden Gruppen Gen-Veränderungen auftraten, also auch bei der krebsfreien Kontrolle. „Man würde erwarten, dass Wissenschaftler das ursprüngliche Paradigma neu bewerten“, kommentiert Brücher. Geringe prozentuale Anteile von Mutationen, die nachweislich in Verbindung stünden, sind auf andere maligne Erkrankungen übertragen worden. „Mutationen treten vorwiegend auf, nachdem die eigentliche Krebszelle entstanden ist“. Damit führt er weiter aus, dass „die Entstehung einer Krebszelle die eine Sache ist – Krebswachstum danach eine andere“ und „richtige Beobachtungen (Mutationen) wurden falsch interpretiert, diese sind für die Mehrheit von Krebs-Entstehungen ursächlich hauptverantwortlich“. Mutationen seien meist späte Phänomene und nicht ursächlich für die Mehrheit von Tumoren. Sein Fazit: „Das ist erschreckend, weil zirka 90 Prozent aller onkologischen Forschungsgelder in zirka fünf Prozent von Tumoren investiert wurden“. Genetik sei wichtig, erkläre aber nicht alles – die Zell-Zell-Kommunikation mit ihren Folgen müsse mehr Berücksichtigung finden.
Mittlerweile haben er und Jamall mit eigener Forschung und zahlreichen In-vitro- und In-vivo-Studien eine neue plausible Hypothese entwickelt, um die Mehrheit an Krebs zu erklären. Hier geht es ihnen um die Entstehung der ersten Krebszelle:
Die Sechs-Stufen-Hypothese (links: einzelne Schritte; Mitte: zelluläre Prozesse). Abkürzungen: CSES - chronische Stressfluchtstrategie; NCCCT - normaler Übergang einer Zelle zur Krebszelle; npGC - neutrophile Granulozyten; TGFβ - Tumorwachstumsfaktor Beta; LOX - Lysyloxidase; ECM - extrazelluläre Matrix. © BioMed Central CC BY 4.0 Brücher führt zahlreiche Belege dieser Sechs-Stufen-Krebs-Hypothese an. Forschung bei Humanen Papillomaviren sowie Zervix-, Penis-, Kopf-Hals-, Speiseröhre und Anogenitalkarzinomen, aber auch bei Dickdarmtumoren, Lungenkrebs und Brustkrebs. Auch bei Infektionen des Magens mit Helicobacter pylori kommt es zur chronischen Inflammation und Fibrose, wie auch beispielsweise durch Besiedlung von Bacteroides (Dickdarm-Adenome und Krebs) oder dem Leberegel Opisthorchis viverrini (Cholangiokarzinom) und vielen mehr. Bei vielen Vorgängen spielen u.a. der Transforming growth factor beta (TGF-ß) und die Lysyloxidase als zentrale Moleküle eine Rolle. Dauerhafte Aktivierung verschiedener Zelltypen, z.B. Fibroblasten bedingen die Erhöhung und Aktivierung von Zytokinen, Zellen und Matrix-Metalloproteasen. Diese beeinflussen die Zell-Kommunikation zwischen den Zellen, und auch anderen Vorgängen, wie die Apoptose.
Welche Lehre können Onkologen aus dem neuen Modell ziehen? Brücher fordert eine bessere Verzahnung zwischen Grundlagenforschung, Translation vom Labor in die Klink und klinischer Forschung. „Eine wissenschaftliche Disziplin gewinnt an Erkenntnis, wenn sich unterschiedlichste Experten anderer Fachdisziplinen zusammen begeben“, sagt der Experte. „Wenn eine Therapie kausal sein soll, reicht es nicht, nur diesen oder jenen Signalweg anzugreifen – wir wissen das seit Langem.“ Für die Zukunft wünscht er sich neben einer besseren Grundlagenforschung die Berücksichtigung weiterer Variablen für eine patientenindividuelle Anti-Krebs-Strategie. Dazu zählt neben umfassenden molekularen, metabolischen und immunologischen Profilen des Tumors auch die Lebensqualität, kalkulierbare Risiken und psychosomatische Faktoren.