Die meisten Menschen haben eine Vorliebe für süße Speisen – das ist evolutionär gesehen sinnvoll, kann bei ständig verfügbarer Nahrung aber die Gesundheit gefährden. Verhaltensforscher verraten einen Trick, die Versuchung zu umgehen.
Wie Lernen und Evolution zusammenhängen, erforschen die Verhaltenswissenschaften seit über 100 Jahren – bisher ohne allgemeingültige Antwort. Dr. Matthias Borgstede, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik der Universität Bamberg, hat einen aktuellen Artikel im verhaltenswissenschaftlichen Fachmagazin Behavioural Processes veröffentlicht. Den Zusammenhang zwischen Lernen und Evolution erklärt er am Beispiel des Eisessens.
„Viele Menschen essen gerne Eis. Das liegt daran, dass unter den Bedingungen, in denen sich der Mensch entwickelt hat, energiereiche Nahrung das Überleben und die Fortpflanzung positiv beeinflusst hat“, sagt Borgstede. Der süße Geschmack des Zuckers ist daher im Laufe der Evolution zu einem Signal für evolutionäre Fitness geworden. Sobald die Evolution derartige Signale hervorgebracht hat, tritt ein weiterer Selektionsprozess auf: Lernen durch Erfahrung oder Verstärkungslernen.
Wann immer Verhaltensweisen im statistischen Mittel mit Fitness-Signalen zusammenhängen, werden diese Verhaltensweisen selbst zu Fitness-Signalen. Für eine Person, die regelmäßig Eis in ihrem Gefrierschrank hat, wird zum Beispiel das Öffnen der Gefrierschranktür zum Fitness-Signal. „Lernen durch Erfahrung besteht nun darin, dass Verhaltensweisen, die evolutionäre Fitness signalisieren, selektiert werden“, erläutert Borgstede. „Durch diesen Selektionsprozess, kann zum Beispiel das abendliche Öffnen der Gefrierschranktür und das Herausnehmen des Eises zur Gewohnheit werden.“
Manche Gewohnheiten, wie beispielsweise abendliches Eisessen, haben jedoch einen negativen Einfluss auf die Gesundheit und somit auf die evolutionäre Fitness. Das liegt daran, dass Menschen heutzutage praktisch unbegrenzten Zugang zu energiereichen Speisen haben, eine evolutionäre Selektion gegen die Vorliebe für süße Speisen jedoch noch nicht stattgefunden hat. Abendliches Eisessen lässt sich daher nur sehr schlecht durch gute Vorsätze oder Appelle reduzieren. „Schlechte Gewohnheiten sind kein Zeichen mangelnder Selbstbeherrschung, sondern das Resultat eines Selektionsprozesses durch die Umgebung“, schlussfolgert Borgstede.
„Wenn wir Verhalten verändern wollen, müssen wir daher die Umgebung ändern. Zum Beispiel können wir dafür sorgen, dass kein Eis mehr im Gefrierschrank ist. Auf diese Weise wird der Spaziergang zur Eisdiele in Zukunft selektiert, statt das Öffnen des Gefrierschranks. Das wäre für die Gesundheit förderlicher.“
Mit diesem Beispiel zeigt Borgstede, dass Lernen ähnlich wie die Evolution durch einen Selektionsprozess abläuft. Während sich bei der biologischen Evolution Lebewesen durch Vererbung über Generationen hinweg verändern, kann aber ein einzelner Mensch sein Verhalten sehr schnell an neue Bedingungen anpassen. Das heißt: Dass Menschen Süßes mögen, ist genetisch in ihnen angelegt. Aber wie sie damit umgehen, hängt wesentlich von der Gestaltung ihrer Umgebung ab.
„Ziel unseres Forschungsprojekts ist es, die Ebenen der biologischen und der individuellen Selektion in einem quantitativen Modell formal zusammenzuführen“, fasst Borgstede zusammen. „Als Verhaltenspsychologen hinterfragen wir grundlegende Prinzipien des Verhaltens“, erläutert Borgstede. „Um alltägliche Begebenheiten zu verstehen, hilft es manchmal, einen Schritt zurückzutreten und einen Gegenstand auf abstrakter Ebene zu untersuchen.“ Mit dem theoretischen Ansatz kann man nicht nur Verhaltensänderungen beim Eisessen erklären, sondern auch andere Lernprozesse, zum Beispiel, wie Menschen lernen, ihre Zeit zwischen verschiedenen Verhaltensdomänen wie Arbeit und Freizeitgestaltung aufzuteilen.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Die Studie haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Brooke Lark, Unsplash