Immunsupprimierte Patienten können monatelang chronisch mit SARS-CoV-2 infiziert sein, zeigen Studien. Problematisch: Das Virus hat so deutlich mehr Zeit zu mutieren. Wie geht man mit diesen Patienten um?
Es gibt immer mehr Anhaltspunkte dafür, dass eine Infektion mit SARS-CoV-2 bei immunsupprimierten Menschen mit sehr langen, geradezu chronischen COVID-19-Verläufen einhergehen kann. Ein weiterer besorgniserregender Effekt: Während das Virus über lange Zeit in diesen Patienten verweilt, hat es mehr als genug Gelegenheiten, zu mutieren – und scheint dies, zumindest in bestimmten Konstellationen, auch zu tun.
Als ein 70-jähriger Brite letzten Sommer mit einer COVID-19-Pneumonie in das Addenbrooke's Hospital in Cambridge eingeliefert wurde, war er bereits seit mehr als einem Monat immer wieder positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden. Trotz mehrfacher Behandlung mit Remdesivir und Rekonvaleszentenplasma verstarb er neun Wochen nach seiner Ankunft auf der Intensivstation der Klinik. Während seines gesamten Aufenthalts wurde der Patient kontinuierlich positiv getestet – mit einer hohen Viruslast. Dies und sein sich verschlimmerndes Krankheitsbild deuteten darauf hin, dass er mehr als 100 Tage lang mit einer aktiven SARS-CoV-2-Infektion zu kämpfen hatte.
Was waren die Gründe für seinen langen Verlauf? Im Jahr 2012 war bei dem Mann ein Marginalzonen-B-Zell-Lymphom diagnostiziert worden. Der Blutkrebs und die Behandlung, die er dagegen erhalten hatte, griffen seine B- und T-Zellen an – sodass er schwer immunsupprimiert war. Ravindra K. Gupta, Professor für klinische Mikrobiologie an der University of Cambridge, war an der Behandlung des Patienten beteiligt. Gupta und seine Kollegen analysierten die SARS-CoV-2-Genomsequenzen des Mannes, die sie an über 23 Tagen über den gesamten Verlauf hin gesammelt hatten, beginnend mit dem ersten positiven Nasopharyngealabstrich.
Ihre Ergebnisse, die im Februar in Nature veröffentlicht wurden, zeigten, dass sich das Virus während der dreimonatigen Infektion weiterentwickelte und sich so an die Behandlung anpasste. Insbesondere die Therapie mit Rekonvaleszentenplasma führte dazu, dass die Vermehrung mutierter Viren begünstigt wurde; ein Phänomen, das in den Phasen ohne Plasmabehandlung dann wieder in die andere Richtung ablief. Gupta geht davon aus, dass der Patient wahrscheinlich die ganze Zeit lang ansteckend war, obwohl es keinen Beweis dafür gibt, dass das Virus auf andere übertragen wurde.
Fallstudien wie diese zeigen, dass einige Patienten mit stark geschwächtem Immunsystem Monate benötigen, um eine Infektion mit SARS-CoV-2 lozuwerden, wenn sie es überhaupt schaffen. Die Befürchtung vieler Wissenschaftler ist, dass durch therapeutischen Selektionsdruck begünstigte Virus-Varianten weitergegeben werden könnten – bis hin zu solchen Varianten, bei denen Therapien oder Impfstoffe schlechter wirken.
„Ich denke, wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es diese Gruppe von Patienten gibt, die eine Übertragung aufrechterhalten und in denen neue Varianten des Virus entstehen könnten“, erklärt Dr. John Mellors, Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten an der University of Pittsburgh und dem University of Pittsburgh Medical Center (UPMC). Mellors und Gupta gehören zu den Virologen, die glauben, dass die besorgniserregenden SARS-CoV-2-Varianten, die um den Globus kreisen, zuerst in immungeschwächten Patienten entstanden sind. „Es gibt keine andere Erklärung dafür, wie das passiert ist“, so Gupta.
Klinisch und epidemiologisch stellen sich in diesem Zusammenhang mehrere Fragen. Wie können Ärzte COVID-19 bei stark immunsupprimierten Patienten am besten behandeln, ohne die Entstehung von behandlungsresistenten Varianten zu fördern? Und wie ist das Vorgehen bei jenen Patienten, die klinisch nur wenig beeinträchtigt sind? Wer sind die Risikopatienten? Wie lange sollten die Patienten isoliert werden?
Fallberichte über anhaltende infektiöse COVID-19-Verläufe beschreiben Patienten mit Lymphomen, Leukämie und Multiplem Myelom sowie Personen mit allogener hämatopoetischer Stammzelltransplantation, CAR-T-Zell-Therapie oder dem Antiphospholipid-Syndrom. Auch Patienten nach Transplantation solider Organe sowie mit chronischen infetkiösen Erkrankungen sind betroffen. So berichtet ein Artikel über Langzeitinfektiosität bei einem Patienten mit (unbehandelter) HIV-Infektion, einem Herztransplantierten und einem weiteren mit rheumatoider Arthritis unter Behandlung mit Rituximab.
Immunsuppression heißt aber nicht automatisch chronische COVID-19-Infektionen. Einiges deutet darauf hin, dass es sich eher um Ausnahmen handelt. „Nicht alle immungeschwächten Patienten sind gleich und diejenigen, die wir mit einer echten chronischen oder rezidivierenden COVID-19-Erkrankung sehen, sind oft Patienten mit einer signifikant beeinträchtigten B-Zell-Immunität, normalerweise auch mit einer gewissen T-Zell-Beeinträchtigung, wie CAR-T-Empfänger, Lymphom-Patienten unter Behandlung, Rituximab-Anwender“, wird der Arzt Francisco Marty aus seiner E-Mail an JAMA zitiert.
Erschwerend kommt hinzu, dass einige stark immungeschwächte Patienten nicht auf Standardimpfstoffe wie Influenza- und Hepatitis-B-Impfstoffe ansprechen – und dass es so aussieht, als ob dasselbe auch für die COVID-19-Impfungen gelten könnte. In einer kürzlich als Pre-Print veröffentlichten Studie der Johns Hopkins University School of Medicine zeigte sich, dass nur etwa die Hälfte von 658 vollständig geimpften Empfängern von Organtransplantaten Antikörper gegen SARS-CoV-2 bildete.
Nicht ganz so hoch sind die Zahlen erwartungsgemäß bei Menschen, die kein Organ bekommen haben, sondern eine chronisch-entzündliche Erkrankung aufweisen. In einer kürzlich veröffentlichten Studie untersuchten Wissenschaftler der Universitätsklinik Erlangen, wie gut Patienten mit immunvermittelten chronisch-entzündlichen Erkrankungen (IMID) auf eine Corona-Impfung ansprechen. Das Ergebnis: Während unter den 182 gesunden Probanden nur bei 0,5 % keine neutralisierenden Antikörper gegen das Coronavirus gemessen werden konnten, waren es bei den 84 Patienten mit einer immunmediierten entzündlichen Erkrankung schon 9,5 %.
Im Umkehrschluss bedeutet dies allerdings auch, dass die allermeisten Patienten mit chronisch-entzündlichen Erkrankungen gut auf die Impfung ansprachen. Interessanterweise waren jedoch die entzündungshemmenden Therapien offensichtlich nicht die Ursache für das verminderte Ansprechen mancher Patienten, sondern die Erkrankung an sich. Denn auch Patienten mit IMID ohne Behandlung wiesen niedrigere Antikörperantworten als die gesunden Kontrollpersonen auf. Darüber hinaus gab es keine Unterschiede zwischen einer Behandlung mit csDMARDs und b/tsDMARDs.
Aber: „Nicht alle reagieren gleich!“, erklärt Dr. David Simon, Assistenzarzt in der Rheumatologie und Immunologie des Uni-Klinikums Erlangen, der die Studie betreut. „Deshalb ist es bei Patienten mit chronisch-entzündlichen Erkrankungen ratsam, die Impfantwort zwei Wochen nach der zweiten Impfung zu bestimmen.“
Im Falle eines Nicht-Ansprechens sind grundsätzlich verschiedene Wege denkbar, wobei der wohl beste eine neuerliche Impfung ist, idealerweise dann auch mit einem anderen Impfpräparat. Während aktuell ein starres Impfregime für die Eindämmung der Corona-Pandemie von zentraler Bedeutung ist, wird es in Zukunft in gewissen Fällen sicherlich notwendig sein, die Impfstrategie individuell anzupassen, eine neuerliche (dritte) Impfung durchzuführen bzw. auch das Impfpräparat zu wechseln.
Ein ganz anderer Ansatz ist der prophylaktische Einsatz monoklonaler Antikörper bei jenen Patienten, die auf die COVID-19-Impfungen serologisch nicht ansprechen. Die prophylaktische Antikörpergabe entspräche vom Konzept her der Passivimpfung, die es auch in einigen anderen Bereichen bei Hochrisikokonstellationen gibt. Dass die prophylaktische Antikörpergabe Infektionen verhindert, haben Studien unter anderem in Seniorenheimen gezeigt. Bei immunsupprimierten Menschen ist das aber noch experimentell.
Bis es Ergebnisse hierzu gäbe, sei es von entscheidender Bedeutung, dass Familienmitglieder und Betreuer dieser Patienten geimpft würden, um eine Art Blase um Menschen mit geschwächtem Immunsystem zu schaffen. Das räut auch der Arzt Joshua A. Hill, Juniorprofessor in der Abteilung für Impfstoffe und Infektionskrankheiten des Fred Hutchinson Cancer Research Center der University of Washington in einem JAMA-Artikel.
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