Ein untypischer Anstieg von Atemwegsinfektionen wurde in Australien und den USA beobachtet. Dort greift das Respiratorische Syncytial-Virus um sich. Müssen deutsche Ärzte sich vorbereiten?
Im Winter kann man typischerweise einen Anstieg von Virusinfektionen der Atemwege bei Erwachsenen und Kindern beobachten. Der letzte Winter war, nicht nur in dieser Hinsicht, eine große Ausnahme. Viele virale Erkankungen, wie die Grippe, konnten durch die Maßnahmen der SARS-CoV-2-Pandemie so weit zurückgedrängt werden, dass sie kaum zu Buche schlugen. Auch in Australien war dieses Phänomen zu beobachten. Die Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens zur Kontrolle von COVID-19 führten zu einer deutlichen Verschiebung des typischen saisonalen Musters anderer viraler Atemwegserkrankungen.
So auch beim sonst typischen Anstieg der Erkrankungen mit dem Respiratorischen Syncytial-Virus (RSV), vor allem bei Kindern. Das RSV verursacht eine Infektion des Respirationstraktes, die mit einer Bronchiolitis bzw. einer obstruktiven Bronchitis einhergehen kann. Typischerweise erfolgt die erste Infektion im Säuglingsalter. Fast alle Kinder durchleben bis zum Ende des 2. Lebensjahres eine RSV-Infektion. Spätere Reinfektionen führen zu einem abgeschwächten Erkrankungsverlauf – es besteht jedoch keine vollständige Immunität. Häufige schwere Verläufe sind oft bei Kindern mit kardiopulmonalen Vorerkrankungen oder bei Immunsuppression zu beobachten. Insbesondere bei diesen Kindern kann RSV lebensbedrohlich sein.
Ende März 2020, also zu Beginn des Südherbstes, fielen in ganz Australien die Anweisung zum Zuhausebleiben und die Einführung der Quarantäne für ankommende Reisende mit dem Beginn der üblichen RSV- und Grippesaison zusammen. Die RSV- und Influenzafälle gingen daraufhin drastisch zurück – und blieben den ganzen australischen Winter über sehr niedrig. In Westaustralien taten sie dies trotz einer Lockerung der COVID-Beschränkungen einschließlich Wiedereröffnung von Schulen ab Mai 2020.
Daraus wurde mancherorts geschlossen, dass vor allem die Grenzschließungen wichtig waren, um die Übertragung durch ankommende Reisende aus Übersee zu reduzieren. Das ist aber nur eine Hypothese. In jedem Fall blieben die RSV-Fälle bis zum späten Südfrühjahr, also bis Ende 2020, niedrig, als schließlich in New South Wales und Westaustralien ein starker Anstieg beobachtet wurde. Geschwindigkeit und Ausmaß dieses Anstiegs waren nicht nur untypisch für diese Jahrezeit, sondern auch größer als die übliche Häufung im Südwinter.
Auch in anderen Bundesstaaten, darunter Victoria und Queensland, konnte ein ähnlicher, nicht saisonaler Anstieg der RSV-Fälle beobachtet werden. Es ist wahrscheinlich, dass die Reduzierung der COVID-19-Beschränkungen hierbei eine Rollte spielte. Eine verringerte Gesamtimmunität gegen RSV könnte ebenfalls dazu beigetragen haben. Erste laufende Studien versuchen bereits, die genauen Gründe für diesen untypischen Anstieg der RSV-Fälle zu verstehen.
Auch in den USA werden seit Mitte Mai dieses Jahres vermehrt RSV-Fälle beobachtet. In Utah sehen die Ärzte des Intermountain Healthcare-Netzwerks während des Höhepunkts einer regulären Saison im Winter normalerweise etwa 300 RSV-infizierte Kinder pro Woche; in diesem Winter wurde nur eine Handvoll Fälle pro Woche gemeldet. Seit Mitte Mai sind es jetzt fast zehnmal so viele Meldungen wie im Winter.
Der australische Anstieg der RSV-Erkankungen im dortigen Sommer und die in letzter Zeit aufgetretenen vermehrten Fälle in den USA könnten auch für andere Länder wichtig sein, denn Europa konnte im Winter einen ähnlichen Rückgang der RSV-Fälle verzeichnen. Die aktuelle Lockerung der Beschränkungen, könnte auch hierzulande eine Gelegenheit für die schnelle Verbreitung des RSV im Sommer bieten.
Wenn das so passieren sollte oder passieren könnte, dann stellen sich Pädiater Fragen. Eine Impfung gegen RSV gibt es (noch) nicht, wohl aber eine passive Immunisierung mit dem monoklonalen Antikörper Palivizumab, die auch oft und nicht ganz korrekt als „Impfung“ bezeichnet wird. In der aktuellen S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie e.V. (DGPI) werden als Prophylaxe bei Kindern unter zwei Jahren und dem Risiko einer schweren RSV-Erkrankung fünf i.m.-Injektionen mit Palivizumab in 4 Wochen-Intervallen empfohlen – allerdings in den Wintermonaten, nicht in den in Sachen RSV normalerweise risikoarmen Sommermonaten.
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Auf Twitter zeigen sich die ersten Kinderärzte jetzt besorgt. Ein Arzt schreibt: „Kann jemand schon abschätzen wann wir mit RSV-Impfungen anfangen sollen? Nachdem sich RSV aktuell entsaisonalisiert hat...?“ In den Kommentaren schreiben mehrere Pädiater, dass sie die Prophylaxe bei ihren Risikopatienten bereits ausgeweitet hätten, da sie auch schon von vermehrten Fällen in Spanien und Frankreich gelesen hätten. Sie zeigen sich nun besorgt, ob dies von den Krankenkassen übernommen werde.
Die Australier signalisieren, ihre Erfahrung solle als Warnung für Kinderkliniken und Kinderärzte in der nördlichen Hemisphäre gesehen werden. Es sei wichtig, für eine angemessene Personalausstattung und verfügbare Ressourcen zu sorgen, um den möglichen erhöhten Bedarf im Sommer zu decken. Auch sei diese Erfahrung auf die Influenza anwendbar, die sich zur Zeit weltweit immer noch auf einem sehr niedrigen Niveau befindet.
In einem Artikel auf newsGP schreiben sie: „Eine reduzierte Immunität gegen Influenza aufgrund der übersprungenen Saison 2020 könnte zu einer sehr schweren Saison führen, wenn die Influenza zurückkehrt. Saisonale Grippeimpfstoffe könnten im Jahr 2021 besonders wichtig sein, um sich vor einem möglichen großen Wiederaufflammen zu schützen.“ Die gleiche Vorsicht und Aufmerksamkeit solle auch für andere saisonale Erkrankungen wie das RSV gelten.
Was sagt die Deutsche Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie (DGPI) zu dem möglichen erhöhten RSV-Risiko in den Sommermonaten? Die beiden Vorsitzenden der DGPI, Prof. Dr. Johannes Hübner von der Abteilung Pädiatrische Infektiologie des Dr. von Haunerschen Kinderspitals und Prof. Dr. Arne Simon aus der Klinik für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie des Universitätsklinikum des Saarlandes sehen die Lage bisher nicht kritisch. „Auch in Kenntnis der australischen Studie, die nach Lockerung der Pandemieschutzmaßnahmen einen deutlichen saisonal verschobenen Anstieg der RSV-Infektionen zeigt, sind die pädiatrischen Infektiologen – im Unterschied zu kanadischen Autoren – nicht der Auffassung, dass zum jetzigen Zeitpunkt eine Änderung der passiven Immunisierung gegen RSV vorgenommen werden sollte“, erklärt Prof. Simon.
In Deutschland gebe es Surveillance-Netzwerke in denen die RSV-Aktivität sehr zeitnah abgebildet würde. Daher sei gegebenenfalls eine Anpassung möglich, insofern sich in Deutschland belastbare Hinweise für eine atypisch verschobene RSV-Saison ergäben. „Unabhängig davon sind die Sorgeberechtigten besonders gefährdeter Kinder in der Regel gut über die entsprechenden Schutzmaßnahmen informiert“, so Simon. Inwieweit ein “Long-Lockdown Syndrom“ hier zu Ermüdungserscheinungen und Nachlässigkeiten führe, könne wegen fehlender Daten zurzeit nicht beurteilt werden.
Die Frage ist, wie schnell RSV-Ausbrüche im deutschen Gesundheitswesen erkannt werden und wie schnell entsprechend reagiert werden kann. Prof. Hübner erklärt: „Sollte die RSV-Aktivität ansteigen, müssten die Zahlen erst einmal von der STIKO begutachtet werden.“
Diese würde dann eine Empfehlung für die Immunisierung von Kindern herausgeben. Anschließend müsse die Finanzierung aber noch vom Gemeinsamen Bundesausschuss und den Krankenkassen geklärt werden – denn die Impfung mit Palivizumab ist teuer. Das mag auch ein Grund dafür sein, warum eine außerplanmäßige Sommerimmunisierungskampagne allein auf Basis von Erfahrungsberichten aus Australien oder Nordamerika in Deutschland eher unrealistisch bleibt.
Bildquelle: Magda Ehlers, pexels