Der Ursprung der COVID-19-Pandemie bleibt weiterhin ungelöst. Die Labor-These wurde zu voreilig abgeblockt, argumentieren jetzt renommierte Wissenschaftler – und nennen dafür zwei Gründe.
Obwohl Forscher mittlerweile viel zur Aufklärung, Therapie und Entwicklung von Impfstoffen zusammengetragen haben, können noch keine sicheren Aussagen zum Ursprung der COVID-19-Pandemie und des SARS-CoV-2 getroffen werden. Dr. Jesse D. Bloom und seine 17 Co-Autoren fordern in einem Leserbrief jetzt eine unabhängie Aufklärung über den Ursprung der Pandemie. Dabei solle eine Zoonose als natürlicher Ursprung der Pandemie, sowie ein Laborausbruch gleichermaßen in Betracht gezogen werden.
Bereits im Mai 2020 verlangte die World Health Assembly unter Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, dem Generaldirektor der WHO, die Bestimmung des Ursprungs von SARS-CoV-2. Im November 2020 wurden die Richtlinien für eine gemeinsame Studie zwischen China und der WHO veröffentlicht. Dabei wurden die Daten und Proben für die erste Phase der Studie von der chinesischen Seite der Kooperation bereitgestellt. Die weitere Untersuchung durch das restliche Team baute auf diesen Ergebnissen auf.
Obwohl es keine eindeutigen Belege für einen natürlichen Ursprung oder Laborunfall gab, bewertete die Forschergruppe anschließend einen zoonotischen Überlauf von einem Zwischenwirt als „wahrscheinlich bis sehr wahrscheinlich“ und ein Laborunglück als „äußerst unwahrscheinlich“. Mit nur 4 Seiten des 313 Seiten langen Berichts sei die Berücksichtigung eines Laborunfalls nicht ausreichend bewertet worden, erklären die Autoren des Leserbriefs. Auch Dr. Tedros stellte fest, dass die Beachtung der Beweise bezüglich eines menschverusachten Laborausbruchs unzureichend sei und bot zusätzliche Ressourcen für eine vollständige Bewertung an.
Bereits im Juni 2020 berichtete das Bulletin of the Atomic Scientists in einem Artikel über den intransparenten Umgang der chinesischen Regierung mit den Ereignissen der Pandemie, sowie einer möglichen Sicherheitslücke in Laboren und über die Unterdrückung von Individuen und Informationen. An der Argumentation hat sich auch nach einem Jahr nicht viel geändert, nur der Ruf nach einer unabhängigen Untersuchung eines Laborausbruchs wurde in einem aktuellen Artikel des gleichen Magazins stärker.
Wohlmöglich soll der Ursprung von SARS-CoV-2 im Wuhan Institute of Virology (WIV) liegen, da es sich in der selben Stadt befindet, in der COVID-19 erstmals auftauchte. Das Institut befasst sich mit lebenden Coronaviren, die in Fledermäusen vorkommen. Die bisher unter der Leitung von Dr. Shi Zhengli veröffentlichten Studien wurden überwiegend unter den Standards der biologischen Schutzstufe 2 (BSL-2) durchgeführt, obwohl BSL-3 Bedingungen für einen ausreichenden Schutz notwendig seien. Lediglich risikoreiche gain-of-function Experimente an SARS-assoziierten Coronaviren aus Fledermäusen wurden unter BSL-3 und BSL-4 Standards ausgeführt. Es wurde bereits gezeigt, dass diese Viren ebenfalls mit ACE2, dem menschlichen Rezeptor für Coronaviren, interagieren können. Unbeabsichtigte Infektionen von Forschern in Biosicherheitsanlagen sind bereits weltweit aufgetreten und seien insbesondere in diesem Fall nicht einfach auszuschließen, heißt es in dem Artikel.
Zhengli hingegen weist in einer E-Mail an das MIT Technology Review die Vorwürfe und Forderung zurück und beschreibt sie als „traurig“ und „inakzeptabel“. „Wer kann Beweise bereitstellen, die nicht existieren?“, so Zhengli. Dabei weist sie darauf hin, dass solche Anschuldigungen lediglich dem Ruf von Wissenschaftlern schade und die Menschen darin schwäche, die nächste Pandemie zu verhindern.
Auch Dr. Peter Ben Embarek, ein dänischer Spezialist für Lebensmittelsicherheit und Tierkrankheiten, der den Vorsitz des Untersuchungsteams innehatte, sagte: „Es ist keine Hypothese, die wir für weitere Untersuchungen empfehlen. Es passieren Unfälle“, aber die im WIV und ähnlichen Laboren aufbewahrten Viren seien genetisch zu unterschiedlich zu SARS-CoV-2.
Den prominenten Wissenschaftlern ist bewusst, welche politische Debatte sie anstoßen. Der Aufruf bekommt durch die vorhandene Expertise der Autoren und der Veröffentlichung in der renommierten Fachzeitschrift Science nun auch die nötige wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Bisher ist das bei anderen aufgrund fehlender Fachkenntnisse und Bekanntheit fehlgeschlagen. Eine ähnliche Forderung wurde bereits im Wall Street Journal von 26 politischen Analysten und Wissenschaftlern gestellt, da „das WHO-Team nicht das Mandat, die Unabhängigkeit oder den notwendigen Zugang“ gehabt habe. Diese Aufforderung wurde jedoch schnell von etablierten Virologen zurückgewiesen.
Die Autoren des Leserbriefs betonen derweil, dass eine solche Debatte auch die Stimmung gegen China befürworten würde. Deshalb machen sie darauf aufmerksam, dass es die „chinesischen Ärzte, Wissenschaftler, Journalisten und Bürger“ waren, die die ersten Informationen zum Virus veröffentlichten.
Die Wissenschaftler in dem Artikel stimmen somit dem Generaldirektor, den USA und 13 anderen Ländern sowie den Mitgliedsstaaten der EU zu, dass Klarheit über den Ursprung der globalen Pandemie notwendig ist. Jede wahrscheinliche Hypothese müsse dabei in Betracht gezogen werden und ordnungsgemäß, transparent, objektiv und datengesteuert untersucht werden. Die Studie müsse dabei ein breites Fachwissen einschließen und einer unabhängigen Aufsicht unterliegen.
Auch wenn für die meisten renommierten Forscher eine natürliche zoonotische Übertragung als Ursprung wahrscheinlicher erscheint, ist eine Laborübertragung nicht unrealistisch. Um gute Wissenschaft zu betreiben, muss auch solch eine Hypothese untersucht und widerlegt werden. Klarheit darüber, wie COVID-19 sich verbreiten konnte, ist wichtig für präventive Maßnahmen gegen zukünftige Pandemien.
Aber wie genau das stattfinden soll und welche Auswirkungen der Aufruf auf die politische und wissenschaftliche Welt hat, ist noch unklar. Wenn China eine erneute und transparente Untersuchung ablehnt, wie soll dann vorgegangen werden? Auch die Frage wer die Aufsicht leitet, ist zu bedenken. Die WHO ist bereits in ihrer Beziehung zu China und dem Umgang zu Beginn der Pandemie in Kritik geraten und wurde als nicht unabhängig genug bezeichnet. Eine globale Zusammenkunft von Wissenschaftlern und Politikern wäre notwendig, um Fragen einer Untersuchung und öffentlicher Kontrolle von Laborforschung mit Viren zu klären. Es geht nicht nur um die Ursache der Pandemie, sondern auch darum, die Wahrscheinlichkeit von Laborübertragungen in risikoreichen Forschungsgebieten weltweit zu verringern.
Den Leserbrief könnt ihr hier einsehen.
Bildquelle: Fabrizio Conti, unsplash