In manchen Impfzentren geht es moralisch höchst fragwürdig zu. Als Impfärztin werde ich regelmäßig unter Druck gesetzt – doch dieses Mal ist mein Geduldsfaden gerissen.
Nun, über einige Missstände in Impfzentren wurde ja bisher schon berichtet. Es gibt Impfzentren, in denen die Impflinge sehr engmaschig und zahlreich einbestellt werden.
Man muss als Arzt schnell aufklären, schnell Fragen und Unklarheiten beseitigen, damit der Impfling schnell in die nächste Kabine zur Impfung geschickt werden kann. Effizient eben. In anderen Impfzentren hat man Zeit. Zwischen den Aufklärungen treffen sich die Ärzte vor den Kabinen und tauschen Erfahrungen aus. Anders ausgedrückt: Quatschen. Mal 5 Minuten, mal 10 Minuten, mal auch nur 2 Minuten. Ein angenehmes Arbeiten.
Natürlich drängt sich die Frage auf, warum man nicht mehr Patienten einbestellt, weniger Ärzte zum Aufklären einteilt oder die Stunden kürzt. Für 130 Euro die Stunde lässt sich die Arbeit in einigen Zentren deutlich wirtschaftlicher gestalten, aber nun gut, so soll es denn dann sein. Der Steuerzahler zahlt.
Eines Tages nach meiner x-ten Impfschicht kam die Schichtleitung – die mich bis dato noch nicht kannte – zu mir: „Die Security hat gesagt, du arbeitest zu langsam.“ Vor den Impfkabinen stehen sogenannte Security Damen oder Herren, die die Impflinge in die Kabinen schicken. Besagte damalige Damen kannten mich nicht. Bisher habe ich immer adäquat zügig gearbeitet. Ich verstand also die Aussage nicht.
„Wie meinst du das, ich arbeite zu langsam?“
„Die Kollegen in den anderen Kabinen klären dreimal so schnell auf wie du.“
„Ich rede mit den Leuten so lange sie es brauchen. Viele sind verunsichert und kommen tatsächlich zur AUFKLÄRUNG.“
„Du musst mich auch verstehen“, sagte die Schichtleitung und ging.
Ich blieb irritiert und wütend zurück. Soll ich gehen, die Schicht abbrechen? Soll ich die jungen Damen und Herren < 60, die ihre Erstimpfung mit AstraZeneca erhalten haben und nun nicht wissen, ob sie wieder AstraZeneca oder Biontech/Pfizer nehmen sollen (es stand ihnen zur freien Auswahl) brüskieren, innerhalb von 10 Sekunden unterschreiben lassen und weiterschicken? Selbstverständlich dauert eine Aufklärung länger in so einem Impfchaos!
Ich versuchte, bei den nächsten Patienten unter Druck aufzuklären – was eigentlich nicht notwendig ist, da man anschließend sowieso wieder 5 Minuten nichts tut – und erntete Unverständnis der Impflinge. Das ging nicht. Ich ging wieder zu meinem Tempo über, das die Impflinge benötigten, und alles war gut. Anschließend suchte ich das Gespräch zu den beiden ca. 20-jährigen Damen der Security. Gegelte Nägel und Haarverlängerungen. Sie verstanden nicht, was es da so viel aufzuklären gibt, schließlich sei das die Zweitimpfung und die Leute haben ja auch schon einen Film geschaut.
Security versus Arzt – keine Chance. Schon gar nicht mit einer Schichtleitung, die sich selber aus Angst, nicht mehr zu den lukrativen Schichten eingeteilt zu werden, lieber nicht mit der Security anlegt. Und welche die Meldung der Security einfach an die ärztlichen Kollegen weitergibt. Impflinge, gebt Acht! Es kann mitunter auch an der Security liegen, wenn der Arzt euch nicht die Zeit gibt, die ihr benötigt.
Eine andere, vollkommen unverständliche Situation ereignete sich, als ich einmal aus meiner Kabine an den Checkout gerufen wurde. Ich möge doch bitte nach der Impfung den Stempel des Impfzentrums in den Ausweis drucken und unterschreiben. Ok. Ich hoffte, dass der Patient den richtigen Impfstoff erhalten hatte, denn dabei war ich nicht. Aber gut. Und so stempelte und unterschrieb ich fleißig für die glücklichen Geimpften.
Plötzlich kam eine Dame vom anderen Checkout zu mir, zeigte mir ein paar Papiere, tippte mit dem Kugelschreiber auf ein Feld und sagte: „Unterschreiben“ (zur Vorgeschichte mit der besagten Dame bitte hier entlang). Ich fragte sie freundlich, was das denn sei und sie sagte: „Da hat ein Arzt vergessen, die Aufklärung zu unterschreiben.“
Ob ich es vergessen hätte, fragte ich.
Sichtlich genervt war sie bereits, da ich offensichtlich erst wissen wollte, was ich unterschreiben soll – welch Dreistigkeit!
Nicht ich, sondern ein anderer Kollege hatte nach der Aufklärung und Einwilligung des Patienten vergessen, diese zu unterschreiben. Ich sagte ihr, dass ich den Patienten nicht kenne und sie möge doch bitte zu dem entsprechenden Arzt gehen, damit er die Unterschrift nachholen kann (Entfernung bis zum besagten Arzt: 20 Meter).
Sie entriss mir die Papiere, bewegte sich Richtung Checkout und hatte auch schon das Telefon in der Hand, um sich bei der Verwaltungsleitung im Impfzentrum über mich zu beschweren.
Diesmal nicht mit mir. Ich folgte ihr, fragte sie, was mit ihr los sei (in Anlehnung an unsere vergangenen Differenzen) und sagte – mit ja, lauter Stimme – vor allen Impflingen im Wartesaal: „Ich werde nichts unterschreiben, was ich nicht selber zu verantworten habe und Sie werden mich nicht dazu nötigen.“ Außerdem seien die Angelegenheiten in den Impfzentren von absolut öffentlichem Interesse, von Steuergeldern finanziert. Deswegen habe jeder ein Anrecht darauf, zu wissen, wie es dort vor sich geht.
Es folgte ein Gespräch mit der Dame der Verwaltung. Ob ich weiterhin zu Schichten eingeteilt werden würde, war mir egal. Die Grenze der Moral wurde zahlreiche Male überschritten: Nichteinhaltung der Priorisierung, Zwang zur Impfung, Druck zur schlechten Aufklärung durch die Security und Nötigung zur Unterschriftleistung mit Beschwerde bei Ablehnung.
Und tatsächlich: In dem besagten Impfzentrum wurde ich nach meinem Ansprechen dieser Vorkommnisse nicht mehr zu Schichten eingeteilt. Die Devise scheint zu lauten: Entweder du hältst die Klappe und kriegst ein Stück vom Kuchen oder du bist kritisch und wirst eben nicht mehr eingeteilt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich, wenn ich den Mund nicht aufgemacht hätte, wie seit Februar weiterhin regelmäßig zu 3–5 Schichten eingeteilt worden wäre – so wie alle anderen Ärzte, mit denen ich dort gearbeitet habe und die weiterhin eingeteilt werden. Zum „Glück“ bin ich noch in einem anderen Impfzentrum, da läuft alles sehr gut und organisiert.
In Zeiten wie diesen ist es wahrscheinlich schwer, seine persönliche und profesionelle Integrität zu wahren. Wir sollten es dennoch versuchen.
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