Rund 35 Prozent aller Hirnschläge mit Schwindel als Hauptsymptom bleiben in der Notaufnahme unerkannt. Eine Videobrille könnte in Zukunft die Diagnose erleichtern.
Etwa 30 Prozent aller Erwachsenen sind einmal in ihrem Leben von Schwindel betroffen. Am Inselspital werden pro Jahr 2.500 Personen mit Schwindel im Notfallzentrum empfangen. Das entspricht etwa jeder zehnten Einlieferung. 4 Prozent davon, also etwa 100 Patientinnen und Patienten, hatten einen Schlaganfall. Die korrekte Triage stellt sehr hohe Anforderungen. Es wird geschätzt, dass bei Triagen in Notfallstationen etwa 35 Prozent aller Hirnschläge mit Schwindel als Hauptsymptom unerkannt bleiben. Das hat auch damit zu tun, dass die Bildgebung mittels MRT in den besonders kritischen 24 Stunden der Anfangsphase unzuverlässig ist.
Übersehene und verpasste Schlaganfälle haben in vielen Fällen bleibende neurologische Schäden zur Folge. Das kann ein lebensgefährdendes Ereignis in einer das Hirn versorgenden Blutbahn sein oder dramatische Erkrankungen, wie ein Wallenberg-Syndrom oder ein Locked-in-Syndrom, das mit dem Ausfall praktisch der gesamten Bewegungssteuerung einhergeht. Der korrekten, frühzeitigen Diagnose des Schlaganfalls im Hirnstamm bzw. im Kleinhirn als Ursache für einen akuten Schwindel kommt deshalb hohe Priorität zu.
Sowohl bei einem „gutartigen“ Schwindel infolge einer Funktionsstörung des Gleichgewichtsorgans im Innenohr bei einer vestibulären Neuritis als auch bei einem Schwindelanfall in der Folge eines Hirnschlags im Kleinhirn oder im Hirnstamm treten im Dunkeln spontane, unkontrollierte Augenbewegungen, ein sogenannter Nystagmus auf. Die Lehrmeinung war bisher, dass sich ein Nystagmus bei einer gutartigen Ursache des Schwindels bei Licht unterdrücken lasse, der Blick also fixiert würde. Dagegen würde sich ein Nystagmus, der auf einen Schlaganfall zurückgeht, bei Licht nicht unterdrücken lassen, die Augenbewegung würde sich unkontrolliert fortsetzen.
Das Forschungsteam unter der Leitung von Prof. Georgios Mantokoudis der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten benutzte ein Gerät bestehend aus einer Videobrille und einem Tablet, das die genaue Bestimmung der Intensität der Augenbewegung in der Zeitachse nach einem Lichtwechsel erlaubte. Diese Vorrichtung löst die Intensität der Bewegung und den zeitlichen Verlauf der Fixierung der Augen genauer auf, als dies die Beobachtung vom bloßen Auge vermag.
Mit der Apparatur in der Versuchsanordnung konnte gezeigt werden, dass bei allen Patientinnen und Patienten die spontanen Augenbewegungen bei Licht noch sichtbar waren, sich jedoch im Vergleich zum Test im Dunkeln reduzierten. Es gab einen klaren Unterschied in der Stärke der Unterdrückung des Nystagmus: Hirnschlagpatientinnen und Hirnschlagpatienten verringerten die Augenbewegungen nach dem Übergang ins Licht weniger. Patientinnen und Patienten mit einer „gutartigen“ Ursache des Schwindels konnten dagegen den Nystagmus beim Wechsel ins Licht vollständiger unterdrücken.
Als bestes Unterscheidungsmerkmal konnte die Verringerung um weniger als zwei Winkelgrade pro Sekunde bei Hirnschlag bestimmt werden. Die Auswertung ergab eine hohe Zuverlässigkeit und Aussagekraft der Unterdrückung der spontanen Augenbewegung, der sogenannten Nystagmussuppression. Damit wurde ein weiterer Test für eine zuverlässige Triage gefunden.
Bei der Differentialdiagnose zur Unterscheidung eines „gutartigen“ Schwindelanfalls aufgrund einer vestibulären Neuritis von einem Schwindel, der durch einen Schlaganfall im Hirnstamm bzw. im Kleinhirn verursacht wird, kommt eine Serie von Tests zur Anwendung (HINTS-Test). Die Untersuchung des Grades der Nystagmussuppression beim Wechsel von Dunkel zum Licht ist dabei ein neues, zusätzliches Element.
Der Einsatz einer Videobrille ergibt zuverlässige Resultate und ist zudem für die Patientin und den Patienten wesentlich angenehmer, schneller, kostengünstiger und der Situation besser angepasst als die Erstellung eines MRT-Bildes. Weiter kann mit dem neuen Nystagmussuppressions-Test lebenswichtige Zeit in der Frühphase nach einem Ereignis gewonnen werden. Damit können Folgeschäden durch nicht erkannte Hirnschläge weiter reduziert werden.
Die zunächst monozentrisch am Inselspital erhobenen Resultate sollen nun in einer größeren Untersuchung ausgedehnt werden, in die auch kleinere Spitäler und dezentrale Notfallstationen einbezogen werden. Von besonderem Interesse ist dabei die Telenotfallmedizin. Weiter sollen Algorithmen der Künstlichen Intelligenz so trainiert werden, dass die Ergebnisse der Nystagmus-Untersuchung mittels Videobrille direkt ausgewertet werden und die Resultate den untersuchenden Ärztinnen und Ärzten praktisch in Echtzeit zur Verfügung gestellt werden können.
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung des Universitätsspital Bern.
Bildquelle: Christian Wiediger, unsplash