Wer schon mal aus dem Tiefschlaf von den Schmerzen eines Wadenkrampfes geweckt wurde, sehnt sich nach Tipps zur Vorbeugung und Therapie. Doch das ist gar nicht so einfach. Denn die drei wichtigsten Therapie-Säulen stehen bei genauerer Betrachtung auf wackligen Füßen.
Etwa ein Drittel aller Erwachsenen leidet mindestens einmal jährlich an Wadenkrämpfen. Zu den Ursachen nächtlicher Wadenkrämpfe gehören Durchblutungs- und Elektrolytstörungen, Diabetes, Nieren- und Schilddrüsenerkrankungen sowie orthopädische, neuromuskuläre und rheumatische Erkrankungen. Auch Medikamente, beispielsweise Diuretika oder Asthmamittel, können Wadenkrämpfe auslösen. Meist ist die Ursache jedoch unklar. Die S1-Leitlinie „Crampi/Muskelkrampf“ betrachtet die Therapie mit skeptischer Zurückhaltung und mahnender Vorsicht. Entgegen den Lifestyle-Botschaften der Laienpresse wird dem Blockbuster Magnesium keine evidenzbasierte Wirkung zugesprochen. Unabhängig davon fokussiert sich die Leitlinie auf die folgenden Statements:
Die Studie der American Academy of Neurology (AAN) untersuchte Veröffentlichungen zur Therapie von Muskelkrämpfen aus den Jahren zwischen 1950 und 2008. Die Datenlage ist sehr heterogen. Es existiert keine randomisierte Studie, die die Wirksamkeit einer nicht medikamentösen Therapie belegt. Zwei Klasse-I-Studien belegen die Wirksamkeit von Chinin mit einer Reduktion der Muskelkrämpfe um 25 bis 30 Prozent. Vier Klasse-II-Studien (n = zwischen 20 und 43) wurden wegen schwerwiegender methodischer Mängel abgewertet. Dennoch kommt die Gesellschaft zu dem Schluss, dass Chinin bei der Behandlung von Crampi wirksam ist. Angesichts der zum Teil schwerwiegenden Nebenwirkungen wie Blutbildveränderungen sollte Chinin mit Zurückhaltung eingesetzt werden. Regelmäßige Kontrollen des Blutbildes sind notwendig. Durchgefallen ist auch Gabapentin. Vitamin B, Lidocain und Diltiazem kommen auch nicht besser weg. Das BfArM verweist auf eine Cochrane-Übersichtsarbeit, wonach die Evidenz für die Wirkung von Chinin gegen nächtliche Wadenkrämpfe „eher limitiert“ ist. In einer Studie, die nicht in die Cochrane-Analyse eingeschlossen war, wurde eine signifikante Reduktion der nächtlichen Wadenkrämpfe erzielt. Deshalb bleibt Chinin zur „Therapie und Prophylaxe nächtlicher Wadenkrämpfe bei Erwachsenen“ zugelassen. Die Indikation wurde jedoch dahingehend eingeschränkt, dass sie „sehr häufig oder besonders schmerzhaft sind und behandelbare Ursachen der Krämpfe ausgeschlossen wurden und nicht-pharmakologische Maßnahmen die Beschwerden nicht ausreichend lindern können“. Ab April 2015 ist Chinin nur noch gegen Rezept erhältlich.
Die UAW-Datenbank des BfArM verzeichnet seit 1978 lediglich Meldungen zu Thrombozytopenien. Erschwert wird die Bewertung durch einen Todesfall unter Chinin, bei dem das BfARM einen „Kausalzusammenhang als möglich“ einstuft. Symptome wie Haut- oder Schleimhauteinblutungen, Nasenbluten oder eine erhöhte Blutungsneigung deuten nicht zwangsläufig auf eine Thrombozytopenie hin. Das BfArM vermutet, dass Thrombozytopenien häufiger auftreten als gemeldet. Die Food and Drug Administration (FDA) hat bereits im Jahr 1994 den OTC-Verkauf von Chininsulfat untersagt und im Jahr 2006 vor dem Off-Label-Use bei Wadenkrämpfen gewarnt. In den USA ist die Substanz nur zur Malariatherapie zugelassen. Auch die kanadische Behörde hat davor gewarnt, und die englische Arzneimittelbehörde hat bereits 2010 die Anwendung von Chininsulfat in der Therapie der nächtlichen Wadenkrämpfe erheblich eingeschränkt. Eine weitere potenziell gefährliche Nebenwirkung sind Herzrhythmusstörungen. Dem BfArM liegen 40 Fallmeldungen zu Chinin in der Systemorganklasse „cardiac disorders“ vor. Todesfälle waren nicht darunter. Chinin kann das QT-Intervall verlängern. In Verbindung mit Medikamenten, die die QT-Zeit verlängern, besteht die Gefahr von Torsade de pointes, die ein tödliches Kammerflimmern erzeugen können. Die gemeinsame Gabe von Chinin mit solchen Arzneimitteln ist deshalb kontraindiziert. Laut dem BfArM gibt es Hinweise auf ein Missbrauchspotenzial. Chinin wird in der Szene dazu benutzt, das Antidiarrhoikum Loperamid ins Gehirn zu schleusen, um so einen Rausch auszulösen. Unverständlich, warum dies als Begründung für eine Rezeptpflicht von Chinin gelten kann, da ja Loperamid die psychotrope Wirkung aufweist.
Sehr häufig wird zur Einnahme von Magnesium geraten. Die empirische Annahme Wadenkrämpfe = Magnesiummangel wird nicht selten als Tatsache aufgefasst. Das ist jedoch falsch. Die Datenlage, ob Magnesium wirklich bei nächtlichen Krämpfen hilft, ist sehr unzureichend. Allgemein gilt, dass Magnesium in Verbindung mit schwachen Säuren wie Citrat eher im sauren Magenmilieu gelöst und resorbiert wird, während dies für Basen wie Magnesiumoxid überwiegend im alkalischen Darmmilieu erfolgt. Auch wenn Mg-Oxid in saurer Umgebung schlecht resorbiert wird, verfügt es mit 63 Prozent Magnesium über wesentlich mehr an Wirkstoffion als beispielsweise das besser bioverfügbare Magnesiumglukonat mit 5,8 Prozent. Über die Bedeutung der Bioverfügbarkeit bei einer längerfristigen Therapie existiert kein wissenschaftlicher Konsens. Eine Metaanalyse von Sebo et al. schloss sieben Doppelblindstudien zur Wirksamkeit von Magnesium gegen nächtliche Wadenkrämpfe ein. Keine der Studien attestierte Magnesium eine signifikante Wirkung gegenüber Placebo. Lediglich in der Untergruppe der Schwangeren schnitt das Mineral besser ab. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine Studie von Garrison et al. In einer Crossover-Studie erhielten 46 Personen mit Wadenkrämpfen über 6 Wochen Magnesiumcitrat (entsprechend 300 mg Magnesium täglich) bzw. Placebo. Obwohl Magnesium von mehr Personen subjektiv als wirksam eingestuft wurde, war die Frequenz der Wadenkrämpfe nur geringfügig rückläufig (nicht signifikant, p=0,07).
Die Leitlinie empfiehlt Dehnen als nichtmedikamentöse Therapie bei Wadenkrämpfen. Häufig wird auch dazu geraten, vor dem Sport Dehnübungen zu machen, um damit Krämpfen vorzubeugen. Eine Metaanalyse, die im skandinavischen Journal of Medicine & Science in Sports [Paywall] veröffentlicht wurde, hat untersucht, welchen Effekt statisches Dehnen vor dem Training auf die sportlichen Leistungen hat. Das Ergebnis überrascht: Statisches Stretching vor dem Sport reduziert signifikant die Muskelkraft, Explosivkraft und Schnelligkeit des Sportlers. Dynamisches Dehnen mit größer werdendem Bewegungsradius ist von dieser Negativaussage nicht betroffen. Auch wenn gelegentliche, nächtliche Wadenkrämpfe lästig und sehr schmerzhaft sind, verbirgt sich selten eine ernste Erkrankung dahinter. Die Datenlage zur Substitution von Mineralien ist dürftig und die Gabe von Chinin nebenwirkungsträchtig. Davon abzugrenzen sind „sportliche“ Crampi und solche bei Schwangeren.