Den Frankfurter Medizinstudenten stinkt es: Aufgrund zu hoher Formalinwerte in der Atemluft sind die Präparierkurse gestrichen. Für die rund 600 Jungmediziner bedeutet das: Anatomie büffeln aus Büchern – statt an echten Körpern.
Angenehm ist er nicht, dieser süßlich stechende Geruch, der einem in den Präpariersälen anatomischer Institute entgegenschlägt. Die Alternative wäre aber nicht besser, schließlich sorgt Formalin nicht nur dafür, dass die menschlichen Körper nicht verwesen, sondern auch, dass sie den jungen Ärzten in spe für ein ganzes Semester als Lernobjekte dienen. Ganz unproblematisch ist diese, auf Formaldehyd-Basis beruhende, Lösung nicht, sie gilt in hoher Dosierung eingeatmet als potenziell krebserregend. Auch harmlosere Symptome vermag das Konservierungsmittel zu verursachen: Augenrötungen, Hautreizungen, ja sogar Konzentrations- und Schlafstörungen kann Formalin in zu hoher Atemluftkonzentration auslösen. Umso wichtiger ist eine leistungsstarke Belüftung der Präpariersäle, die für einen ausreichenden Luftaustausch sorgt. Auf diese Weise bleiben die Formalinwerte in einem unbedenklichen Rahmen. Aber genau hier liegt der neuralgische Punkt in der Mainmetropole.
Seit März dieses Jahres gelten veränderte Grenzwerte für Formalin bzw. Formaldehyd in der Atemluft. Schon 2006 warnte das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) vor der krebserregenden Wirkung durch Formalindämpfe. Jedoch sei diese eng an die Raumluftkonzentration gekoppelt. So heißt es seitens des Berliner Institutes: „Bei Raumluftwerten von oder unterhalb von 124 Mikrogramm Formaldehyd pro Kubikmeter ist praktisch keine krebsauslösende Wirkung mehr zu erwarten. Bei wiederholter, deutlicher Überschreitung dieses Wertes können gesundheitliche Risiken bestehen.“ Diese Grenzwerte können in den Anatomie-Sälen der Medizinischen Fakultät Frankfurt nicht eingehalten werden. Aus diesem Grund ist seit Anfang dieses Jahres Schluss mit der so wichtigen Arbeit am menschlichen Präparat. Eine probate Alternative gibt es nicht – nur an den echten Körpern lassen sich die anatomischen Begebenheiten realistisch erlernen. Hier sammelt der von viel Theorie geplagte Medizinstudent der Vorklinik erstmals praktische Erfahrung. Am echten Menschen sind eben die Arterien nicht rot, die Venen blau, die Nerven gelb und die Lymphknoten grün.
Das Büffeln mit Lernkarten, Skizzen und Knetmodellen stößt bei den Jungakademikern auf wenig Gegenliebe. Während im vergangenen Semester bei den Themen Extremitäten, Muskulatur und Knochen noch an echten Menschen gearbeitet werden durfte, fällt der Kurs „Innere Organe“ nun der verunreinigten Atemluft und dem mangelnden technischen Know-How zum Opfer. „Es ist der wichtigste Kurs. Jetzt werde ich den Thorax zum ersten Mal in der Klinik, am Patienten, sehen“, so eine Frankfurter Medizinstudentin. „Es geht uns nicht um die Note im Physikum. Es geht uns darum, etwas zu lernen, was wir später wissen müssen.“ An Eigeninitiative mangelt es dabei wirklich nicht. Eine Sprecherin der Fakultät berichtet über Studenten mit der Bereitschaft, eine schriftliche Absichtserklärung vorzulegen, auch unter den aktuellen Bedingungen weiterzuarbeiten. Leider, aber auch verständlicherweise, wäre dies jedoch nicht rechtens. „Wir müssen die Veranstaltungen so anbieten, dass sie rechtskonform sind“, resümiert Horst-Werner Korf, Professor am Anatomischen Institut der Universität Frankfurt.
Bereits 2009 ergaben Messungen in den entsprechenden Räumlichkeiten zu hohe Formalinwerte in der Atemluft. Gemessen werden dabei bis heute regelmäßig Werte von 1.000 – 1.200 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Zur Erinnerung: Als völlig unbedenklich gilt etwa ein Zehntel. Da sich sowohl Personal als auch Studenten jedoch nur zeitweise in den Präpariersälen aufhalten, erlaubt die derzeitige Gesetzgebung seit März 2015 zwar auch Werte bis 740 Mikrogramm. Aber auch hier ist man am Main weit davon entfernt, besser gesagt, weit darüber. Bereits damals begannen die Verantwortlichen mit einer Reihe von Maßnahmen, die jedoch leider nicht den gewünschten Erfolg brachten. Weder provisorisch angebrachte Schürzen an der Lüftung, noch eine Reduzierung des Formalins konnten die Werte in einen akzeptablen Bereich absenken. Zu geringe Mengen der gesundheitsschädlichen Substanz verbieten sich von selbst, da dann keine ausreichende Konservierung der Leichen mehr gewährleistet wäre. Die einzige Möglichkeit besteht in einem kompletten Neubau der Entlüftungsanlage. Angesichts des Alters der gesamten Anlage wird sogar ein Neubau diskutiert, das Institutsgebäude „feiert“ dieses Jahr immerhin seinen 60. Geburtstag. Die Frage ist – wie praktisch immer bei öffentlichen Investitionen – wie die Finanzierung gestaltet werden kann.
An anderen Universitätsstandorten sah man das „Formalin-Problem“ ebenfalls kommen. Nur wurde hier früher reagiert: Die Universität Nürnberg-Erlangen beispielsweise hat mit einem finanziellen Kraftakt eine komplette Modernisierung ihrer Anatomie-Räumlichkeiten vorgenommen. Der bei den hessischen Kollegen diskutierte Neubau wird aber noch mindestens fünf Jahre auf sich warten lassen. Und der Druck steigt: „Ganz schlimm wird es für die nächsten Erstsemester, die eventuell gar nicht mehr die Möglichkeit haben werden, die Anatomie am Spenderkörper zu studieren“, fürchtet eine Frankfurter Medizinstudentin. Mittlerweile haben knapp 400 Medizinstudenten einen Appell der Fachschaft Medizin unterzeichnet, um die Universitätsleitung einmal mehr auf die Dringlichkeit der Situation aufmerksam zu machen.
Fakt ist, dass schnellstens etwas passieren muss. Zwar gibt es viel mehr Bewerber für ein Medizinstudium als Plätze vorhanden sind. Dennoch wird der Universitätsstandort Frankfurt zumindest in Sachen Medizinstudium durch solche Umstände deutlich an Attraktivität verlieren. Auch sind es nicht nur die Studenten, die ein Anrecht auf den Anatomiekurs am echten Präparat haben: Die Verstorbenen haben ihre Körper bewusst der Wissenschaft beziehungsweise der Medizinerausbildung zur Verfügung gestellt. Somit ist es eine ethisch unumstößliche Verpflichtung, diesem Wunsch auch nachzukommen. In einer Mischung aus Verzweiflung und Kreativität gibt es nun Planungen, die Leichen vorübergehend mit gesundheitlich unbedenklicherem Alkohol zu konservieren. „Das jedoch, gibt Anatomie-Professor Thomas Deller zu bedenken, gibt Probleme mit dem Brandschutz.