Innovative Arzneistoffmoleküle aus dem Forschungslabor – ein kostspieliger Traum vieler Hersteller. Sprudelt die eigene Pipeline nur schwach, bleibt Plan B. Immer häufiger entlocken Hersteller alten Pharmaka neue Indikationen. Ein Streifzug durch die Rumpelkammer.
Auf forschende Pharmafirmen kommen große Aufgaben zu: In den Vereinigten Staaten leiden schätzungsweise 28 Millionen Menschen an Typ 2-Diabetes – Tendenz steigend. Hierzulande erhöhte sich die Zahl an Patienten zwischen 1998 und 2012 auf über sechs Millionen. Nur ärgerlich, dass die Pipeline eher schwach tröpfelt. Doch Shergkan Jin aus New Jersey machte die Not zur Tugend – mit einem alten Arzneistoff, der vielleicht schon bald zu neuer Blüte kommt.
Jins Idee erinnert an biochemische Grundvorlesungen im Pharmaziestudium. Große Lipidmengen führen in Leberzellen oder im Muskelgewebe langfristig zur Insulinresistenz. Der Forscher versucht, über einen chemischen „Kurzschluss“ in der Atmungskette Oxidationsprozesse zu forcieren. Mitochondrien bauen ohne externe Störung einen Protonengradienten auf, um Adenosintriphosphat (ATP) herzustellen. Chemische Entkoppler nehmen Protonen auf einer Seite auf und geben sie auf der anderen Seite wieder ab – der Gradient verringert sich. Jin fand bei Literaturrecherchen ein geeignetes Molekül: Niclosamid, von US-Behörden gegen diverse Bandwürmer seit Jahren zugelassen, erwies sich als geeigneter Kandidat. Im Tierversuch verschwand die Insulinresistenz, nachdem Mäuse nanomolekulare Mengen des Pharmakons bekommen hatten. Jetzt geht es um die Frage, ob Menschen profitieren.
Apropos Diabetes: Weitere Untersuchungen befassen sich mit Metformin, dem bevorzugten Erstmedikament bei Typ 2-Diabetes. Das Pharmakon leistet mehr: Lori C. Sakoda bekam vom US-Versicherungskonzern Kaiser Permanente Aufzeichnungen über 47.351 Typ 2-Diabetiker. Davon wurden 46 Prozent mit Metformin behandelt. Innerhalb von 15 Jahren erkrankten 747 Patienten an Lungenkrebs, auch 80 Nichtraucher. Wer keine Zigaretten konsumiert hatte, profitierte von einem signifikanten Schutz – Menschen aus dieser Gruppe erkranken zu 43 Prozent seltener an Lungenkrebs. Protektive Effekte bestanden speziell gegen Adenokarzinome, während Bronchialkarzinome, die in erster Linie durch blauen Dunst ausgelöst werden, zahlenmäßig unverändert blieben.
Auch bei der Ebola-Epidemie suchten Ärzte und Apotheker nach bekannten Molekülen – mit Erfolg: Das Virostatikum Favipiravir, in Japan gegen Influenza zugelassen, zeigte Effekte im Anfangsstadium von Ebola. Eine Studie umfasste 80 Patienten, darunter 11 Kinder. Bei ihnen hatten Ärzte Ebola-Viren via PCR eindeutig identifiziert. Erwachsene erhielten nach einer initialen Hochdosisgabe täglich 1.200 Milligramm Favipiravir. Bei 58 Prozent war die Viruslast zu Beginn der Studie eher niedrig. In dieser Teilgruppe kam es bei 42 Prozent aller Erkrankten zum Nierenversagen, aber nur 15 Prozent verstarben trotz Behandlung. War die Viruslast hoch, was für fortgeschrittene Formen der Erkrankung spricht, lag die Mortalität bei 93 Prozent. Da eine Phase-III-Studie unter definierten Bedingungen nicht möglich ist, wollen französische Forscher möglichst viele Patienten in frühen Stadien mit dem Virustatikum behandeln. Sie rechnen auch in den nächsten Jahren mit weiteren Ebola-Ausbrüchen.
Die Virologie ist auch in anderen Ländern ein Thema. Schon länger suchen Wissenschaftler nach einer Alternative für Sofosbuvir. Von diesem Präparat profitieren aufgrund exorbitant hoher Behandlungskosten nur wenige aller weltweit 150 Millionen Hepatitis-C-Patienten. Alte Moleküle ohne Patentschutz gelten als mögliche Option. Am National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases haben Forscher jetzt eine Substanzbibliothek mit 3.800 bereits zugelassenen Pharmaka gescreent. Die Überraschung: Chlorcyclizin, ein Pharmakon, das US-amerikanische Apotheker bei Juckreiz oder triefenden Nasen abgegeben, erwies sich als wirksam gegen Hepatitis C. Neue Studien sollen jetzt zeigen, ob sich Erkenntnisse aus dem Tierversuch auf Menschen übertragen lassen. Eine Sache ist aber schon heute klar: Über Nebenwirkungen braucht sich niemand Gedanken zu machen – das Präparat ist hinreichend lange im Markt.
Ob sich Hoffnungen hinsichtlich des Abgabepreises tatsächlich bewahrheiten, sei dahingestellt. Ein Blick auf Deutschland: Bei speziellen Formen der akuten Promyelozytenleukämie (APL) erhalten Patienten Infusionslösungen mit Arsentrioxid. Trisenox® schlägt mit 4.617 Euro je Packung zu Buche (Apothekeneinkaufspreis brutto; Stand 2014). Auch Thalidomid hat einen zweiten Frühling erlebt – als Behandlungsoption bei multiplen Myelomen. Der Arzneistoff wurde zum Preis von knapp 500 Euro pro Packung auf den Markt gebracht. Früher kostete eine Packung Contergan® etwa vier D-Mark. Alte Moleküle bieten aus wirtschaftlichem Blickwinkel ebenfalls Potenzial.