Es ist Sonntag, ich habe Notdienst. Ring, ring, riiing. 120 Dezibel lassen mich im Bett aufrecht sitzen. An der Notdienstklappe erwartet mich ein zorniger Mann. „Ich brauche Sildenafil!“, brüllt er.
Es ist Sonntag und ich habe Notdienst.
Genau genommen ist nicht mehr Sonntag, es ist schon Montag. Zwei Stunden nach Mitternacht.
Ich schlafe.
RIIIIING, RIIIIIING, RIIIIIING.
120 Dezibel lassen mich im Bett aufrecht sitzen. Oder besser gesagt, auf dieser mehr oder weniger gemütlichen Schlafcouch, die hier in der Apotheke steht. Aber wir wollen ja nicht meckern.
Wütend blicke ich nach oben auf die Notdienstglocke. Ich hasse sie. Sie ist so verdammt laut, dass mein Herz jedesmal kurz stehen bleibt und dann auf mindestens 150 Schläge pro Minute beschleunigt.
Vermute ich zumindest, denn dazu bräucht ich eine ganze Minute Zeit, um jeden einzelnen Herzschlag zu zählen. Die habe ich aber selten, denn meistens wird die Klingel innerhalb weniger Sekunden erneut gedrückt.
Keine zehn Sekunden später klingelt das Teil schon wieder.
„Ja, doch! Ich komme ja schon!”, fluche ich vor mich hin und suche im Dunkeln meine Hose. Da es offensichtlich im Hellen besser geht, schalte ich das Licht ein.
Mit halb zugekniffenen Augen werfe ich noch einen kurzen Blick in den Spiegel, ob man so unter Menschen gehen kann. Kann man. Zumindest im Notdienst.
Ich drehe mich um, greife noch nach meiner Maske und gerade als ich sie aufsetzen will, schlägt die Klingel wieder Alarm.
Einerseits nervt es mich, dass manche Menschen keine Geduld haben und innerhalb einer Minute dreimal klingeln müssen, weil es ihnen zu lange dauert, bis ich zur Stelle bin, andererseits stehen sie vor einer dunklen Apotheke, brauchen dringend ein Arzneimittel und fragen sich, ob überhaupt jemand da ist.
Aber in der Regel reicht es, einmal zu klingeln und etwas Geduld zu haben. Es gibt tatsächlich auch Apotheker*innen, die während ihres Notdienstes mal auf die Toilette müssen.
Dass alles schläft und nur einer wacht, ist übrigens ein Gerücht, denn wir schlafen im Notdienst! Wie sollte es denn auch anders sein? Ich fange den Tag schließlich morgens an und arbeite dann rund 24 Stunden.
Andere fangen abends an und arbeiten nach dem Notdienst noch den ganzen Tag. Ich kann das nicht. Selbst in Nächten, in denen ich nicht ein einziges Mal geweckt werde und länger schlafe als zu Hause, an einem normalen Arbeitstag, ist mit mir am darauffolgenden Tag nicht viel anzufangen. Der Notdienstschlaf ist nicht sehr erholsam.
Ich öffne also die Tür des Raumes, in dem tagsüber zu Mittag gegessen und im Notdienst geschlafen wird, und mache mich auf den Weg zur Notdienstklappe.
Ich lasse das Licht im HV aus. Der Bildschirm des Computers sorgt dafür, dass ich alles sehen kann, was ich sehen muss.
Ich öffne die Notdienstklappe.
Ich würde sagen, das Verhältnis der Maskenkorrektträger und der Maskennichtträger an der Notdienstklappe ist ungefähr 50:50. Die Wahrscheinlichkeit, dass mich jemand infiziert, der ohne Maske draußen am anderen Ende der Notdienstklappe steht, halte ich jetzt nicht unbedingt für gering, weshalb ich natürlich eine FFP2-Maske trage. Sobald ich die Notdienstklappe öffne, zieht Luft in die Apotheke. Möglicherweise ja infektiöses Aerosol.
Ich weiß es also zu schätzen, wenn die Menschen, die dort mit mir sprechen, ebenfalls eine Maske tragen.
Der Herr, der noch vor einer Minute einen Herzstillstand bei mir auslöste, trägt keine.
„Na, endlich! Ich dachte schon, dass Sie gar nicht mehr kommen“, sagt er in einem genervten Ton.
Ich gehe nicht darauf ein. Das Pokerface gelingt mir auch nur so mittelmäßig.
„Was kann ich für Sie tun?”
„Ich brauche Sildenafil!”
Sildenafil ist ein Wirkstoff, der bei Erektionsproblemen Abhilfe schafft, indem er bei vorliegender sexueller Stimulation den Bluteinstrom in den Penis unterstützt und ebenfalls die Erektion aufrecht erhält.
„Dafür bräuchten Sie ein Rezept”, antworte ich.
Er kramt sein Smartphone aus der Tasche und hält es mir vor die Nase. Ich gehe einen Schritt zurück.
„Das ist kein Rezept, das ist ein Foto eines Rezeptes”, erwidere ich. “Ich bräuchte das Original!”
Dieses Ereignis fand statt, als das Manuskript meines Buches längst eingereicht war. Dort steht folgender Satz zu den einzelnen Geschichten: „Die meisten Dialoge habe ich so oder so ähnlich schon hunderte Male geführt.” Das hier ist definitiv so ein Fall.
„Das Original habe ich jetzt aber nicht mit. Warum soll das nicht gehen? Das hat mir ja mein Arzt verordnet”
„Weil es mir im Original vorliegen muss. Würde das als Foto ausreichen, könnten Sie es ja theoretisch mehr als einmal einlösen. Ein Rezept kann allerdings nur einmal eingelöst werden.”
„Ich kann gerne meinen Arzt anrufen, der kann es Ihnen bestätigen.”
„Theoretisch ginge das, wenn ich mit Ihrem Arzt sprechen würde, dazu müsste ich mir aber hundertprozentig sicher sein, dass er Arzt ist, was ich nicht sein kann, wenn Sie irgendjemandem auf Ihrem Smartphone anrufen. Um diese Zeit wird er auch sehr wahrscheinlich nicht in seiner Praxis sein, sodass ich ihn anrufen könnte.”
„Das heißt, Sie wollen es mir jetzt nicht geben?”
„Das heißt, ich darf es Ihnen jetzt nicht geben. Nicht ohne das Originalrezept. Sie können sich aber gerne bei einer Bereitschaftsärztin oder einem Bereitschaftsarzt ein neues Rezept ausstellen lassen, falls diese dazu bereit sind. Möglicherweise wird Ihnen auch im Krankenhaus geholfen.”
„Unfassbar! Sie sind ein Arschloch!” Er dreht sich um und geht.
Ich verdrehe kurz die Augen, schüttele den Kopf und schließe die Notdienstklappe. Gerade, als ich wieder zu meiner Schlafcouch gehen will, klopft es an der Scheibe.
Ich drehe mich um und öffne die Notdienstklappe erneut – in Erwartung weiterer Beleidigungen. Doch zu meinem Erstaunen steht jetzt ein junger Mann davor.
„Hallo. Entschuldigen Sie bitte die Störung”, begrüßt er mich.
„Hallo”, erwidere ich. „Sie stören nicht. Was kann ich für Sie tun?”
„Ich bräuchte die Pille danach!”
Die Pille danach verschiebt den Eisprung um bis zu fünf Tage nach hinten, sodass die Spermien während ihrer Lebenszeit von ebenfalls rund fünf Tagen, die Eizelle nicht mehr erreichen und sie deshalb nicht befruchten können.
Es werden die beiden Wirkstoffe Levonorgestrel und Ulipristalacetat eingesetzt. Levonorgestrel ist bis zu drei Tage nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr wirksam und Ulipristalacetat sogar noch bis zu fünf Tage danach.
Ulipristalacetat wirkt auch noch kurz vor dem Eisprung.
Findet der Eisprung vor der Einnahme der Pille danach statt, bringt sie nichts mehr, da sie den Eisprung dann ja auch nicht mehr verschieben kann.
Da man nicht sicher sagen kann, wann der Eisprung stattfindet, bin ich der Meinung, dass man sich auch nachts aufmachen sollte, um die Pille danach in der Apotheke zu erwerben. Also weckt mich ruhig deswegen.
„Tut mir leid, da müsste ich mit der Frau, für die sie gedacht ist, persönlich sprechen! Sie müsste ein paar wichtige Fragen beantworten”
„Ähm, die Pille danach ist für mich!”
Für einen Moment bin ich ziemlich verwirrt. Ich war mir relativ sicher, dass es sich bei der Person, die im Dunkeln vor mir steht, um einen Mann handelt, auch wenn sie keine allzu tiefe Stimme hat. Möglicherweise handelt es sich bei der Person aber auch um einen Transmann, also einer Person, die als Frau geboren wurde, sich aber als Mann identifiziert. Ich erinnere mich mal davon gelesen zu haben, wie ein Transmann ein Kind austrug.
Doch ich liege falsch. Noch bevor ich weiß, was ich darauf antworten soll, höre ich die Person vor mir folgenden Satz sagen.
„Ich hatte Analverkehr und mir ist dann das Gummi gerissen.”
Okay. Jetzt bin ich völlig verwirrt. Gut, das Sperma könnte natürlich auch hier raus und da reinlaufen, und so möglicherweise zu einer Schwangerschaft führen, aber ich gebe zu, dass ich für einen kurzen Moment in Betracht gezogen habe, hier gerade gehörig verarscht zu werden. Normalerweise kommen die Menschen dafür aber nicht extra an die Notdienstklappe, sondern machen das per Telefon. Leider nicht allzu selten.
„Ich, äh, möchte die Pille danach, damit ich mich nicht mit HIV infiziere.“
Aaah. Jetzt macht es Klick. Er meint gar nicht die „normale“ Pille danach, sondern die sogenannte Postexpositionsprophylaxe (PEP), die vor einer Infektion mit HIV schützen soll.
HIV ist die Abkürzung für das Humane Immundefizienz-Virus. Das HI-Virus, ein Retrovirus, führt unbehandelt zu AIDS (acquired immuno-deficiency syndrome).
Heutzutage nehmen HIV-positive Menschen in der Regel lebenslang einen Cocktail aus mindestens drei antiretroviral wirksamen Virostatika ein, wodurch die Viruslast meistens so weit gesenkt werden kann, dass die Lebenserwartung der infizierten Person nicht reduziert ist.
Die Viruslast gibt die Konzentration des Virus in einer bestimmten Körperflüssigkeit an. Beim HIV wäre die Viruslast im Blut, im Sperma und in der Scheidenflüssigkeit relevant. Je geringer die Viruslast, desto geringer das Ansteckungsrisiko.
Am größten ist das Risiko sich zu infizieren bei Vaginal- oder Analverkehr.
Laut Deutscher Aidshilfe wird eine PEP in der Regel durchgeführt, wenn man ungeschützten Geschlechtsverkehr (anal oder vaginal) mit einer Person hatte, die
Der richtige Ansprechpartner in einer derartigen Situation wäre die Ambulanz oder eine Arztpraxis, dort wird ein Arzt oder eine Ärztin darüber entscheiden, ob eine PEP notwendig ist, oder nicht.
Eine Postexpositionsprophylaxe sollte möglichst früh begonnen werden – innerhalb von 24 Stunden. Spätestens aber innerhalb von 72 Stunden.
Optimal wäre es, wenn die PEP sogar innerhalb von zwei Stunden eingeleitet werden würde. Dazu muss vier Wochen lang eine Kombination von drei antiretroviralen Wirkstoffen eingenommen werden, die man normalerweise zur Behandlung der HIV-Infektion einsetzt.
Ich erkläre dem jungen Mann also, dass ich erstmal nichts für ihn tun kann, außer ihm die Adresse der Stelle herauszusuchen, an die er sich um diese Uhrzeit noch wenden kann.
„Ich wünsche Ihnen alles Gute!”, sage ich abschließend.
„Vielen Dank für Ihre Hilfe. Gute Nacht.”
„Gute Nacht.”
Ich schließe die Notdienstklappe und schlurfe zurück in mein Schlafzimmer, wasche mir die Hände und lege mich dann wieder auf die Couch, in der Hoffnung noch ein bisschen Schlaf zu bekommen, bevor der Wecker morgen früh klingelt – oder die Klingel an der Wand.
Bildquelle: Charles Deluvio, unsplash