Die Corona-Pandemie macht's deutlich: Immer wieder verstricken wir uns auch in der Medizin in nationalen Alleingängen. Darüber ärgere ich mich.
Die COVID-19-Pandemie hat einmal mehr gezeigt, was wir schon wussten: Infektionen betreffen alle Menschen unabhängig von ihrem Wohnort – und auch die biomedizinische Forschung bringt nur international Erfolg.
Was für SARS-CoV-2 gilt, trifft auf alle Erkrankungen zu. Krebs, Diabetes oder Adipositas rollen als nicht virale Krankheitswellen längst durch alle Nationen. Umso erstaunlicher, dass manche Ärzte und manche Gesundheitspolitiker immer noch die Schranken ihres eigenen Landes vor Augen haben. Ein Streifzug durch Deutschlands letzte Fürstentümer.
Das beginnt bei medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften. Sie richten große Jahreskongresse aus, organisieren sonstige Fortbildungsveranstaltungen, erstellen Leitlinien oder informieren die Allgemeinheit über bestimmte Themen. Alles in deutscher Sprache.
Schön und gut, aber ist das noch zeitgemäß? Nein! Es gibt europäische Fachgesellschaften zu den großen Themen, etwa die European Society of Cardiology (ESC), die European Society for Medical Oncology (ESMO) und viele mehr. Auch US-Fachgesellschaften wie das American College of Cardiology (ACC), die American Society of Clinical Oncology (ASCO) oder ähnliche Verbände prägen das Geschehen.
Sie richten riesige, internationale Tagungen aus, derzeit nur virtuell, vor Corona als Präsenzveranstaltungen. Und diverse Leitlinien kommen aus ihrer Feder. Allein durch ihre Mitgliederzahl haben solche Verbände mehr kritische Masse, mehr Expertise und mehr Einfluss als nationale Verbände. Eigentlich sollten englische Vorträge Ärzte nicht abschrecken. Und Patienten könnte man mit einem entsprechenden Budget auch zentral in ihrer Muttersprache erreichen. Das alles spricht gegen die Kleinstaaterei.
Auch bei der Bewertung von Impfstoffen denken wir lieber kleinteilig. Aktuelles Beispiel: Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfahl Vaxzevria® von AstraZeneca zuerst für Menschen zwischen 18 und 64 Jahren, aber nicht für Senioren. Aufgrund von Sinusthrombosen folgte dann der Richtungswechsel. Aktuell sollen nur noch Personen ab 60 das Vakzin bekommen. Wer bei der Erstimpfung Vaxzevria® erhalten hat und jünger ist, wird nun mit mRNA-Impfstoffen versorgt.
Aber warum? Die eigentliche EU-Zulassung deckt solche Ratschläge nicht. Laut EMA kann das Vakzin bei allen Bürgern ab 18 eingesetzt werden, unabhängig von Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen oder Ethnie. Lediglich der Beipackzettel wurde mit Hinweisen ergänzt. Damit sorgt die STIKO für größtmögliche Verwirrung. Ärzte sollten über Risiken aufklären, keine Frage. Warum Deutschland eine bestehende Zulassung in Zeiten knapper Impfstoffe weiter einschränkt, erschließt sich mir nicht.
Man bedenke: Noch vor wenigen Wochen starben pro Tag deutschlandweit 140 bis 150 Menschen an COVID-19. Zum Vergleich: Das Paul-Ehrlich-Institut hat bei 8.586.297 Erstdosen plus 737.181 Zweitdosen Vaxzevria® bislang 21 Todesfälle in Zusammenhang mit dem Thrombose-mit-Thrombozytopenie-Syndrom gemeldet. Die Debatte hat jedoch dazu geführt, dass viele Menschen Vaxzevria® ablehnen und lieber auf ein mRNA-Vakzin warten – für Risikopatienten definitiv die falsche Entscheidung. Hier wäre es besser gewesen, sich im Rahmen der EMA-Zulassung zu bewegen.
Und nicht zuletzt fehlt auch gesundheitsökonomisch der europäische Blickwinkel. Die bekannten Säulen:
So weit, so bekannt. Nur ist der deutsche Markt auf einer internationalen Skala klein. Kommen Hersteller beim AMNOG nicht ans Ziel, ziehen sie ihr Präparat einfach zurück. Das ist Alpelisib, einem Inhibitor der Phosphoinositid-3-Kinase (PI3K) zur Brustkrebs-Therapie, passiert. Novartis hat das Präparat zum 1. Mai vom deutschen Markt genommen.
Was lernen wir daraus? Besser wäre eine zentrale europäische Behörde, die solche Verhandlungen führt. Sie könnte auch Unterschiede einzelner EU-Mitgliedsstaaten berücksichtigen. Aber vor allem spricht sie mit Herstellern über ganz andere Volumina als der GKV-Spitzenverband. Das schafft mehr Spielraum bei Rabatten. Und Firmen würde sich einen Bärendienst erweisen, Präparate aus dem gesamte EU-Markt zurückzuziehen.
Dieses europäische Denken fehlt uns aber noch. In vielen Bereichen.
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