„Was soll ich mit Plan B? Ich bekomme jeden intubiert.“ Für den Oberarzt ist die Aussage des Assistenzarztes purer Hochmut. Denn egal, wie erfahren man ist: Fehler passieren. Das macht ein tragischer Fall deutlich, den jeder Mediziner kennen sollte.
Irren ist menschlich und passiert oft dann, wenn man am wenigsten damit rechnet. Man macht den selben Vorgang hundert Mal richtig und beim 101. Mal macht man etwas falsch. So geht es uns allen mal – auch Medizinern. Selbst der noch so erfahrene Arzt ist davor nicht gefeit, wie Narkosedoc weiß.
Der bloggende Anästhesist schildert auf Twitter folgendes Szenario: „Intubation auf ITS. Ich gucke als OA über die Schulter – AA kommuniziert keinen Plan, null Absprache (Medis, Plan B etc.). Im Debriefing spreche ich das an.“
Vom Assistenzart erhält er die Antwort: „Was soll ich mit Plan B? Ich bekomme jeden intubiert, zur Not mit Video und Bougie“. Der Mediziner befindet sich im zweiten Weiterbildungsjahr. „Ganz schön großmäulig, der Grünling. Wer keinen Plan B hat, sollte sich gut überlegen, ob er zu Plan A schreitet“, findet ein Kollege. „Der Junge muss erzogen werden“, kommentiert eine Neurologin scherzhaft.
„Wenn ich so von meinem OA angesprochen werde, dann sollte ich vielleicht darüber nachdenken, dass es einen Grund gibt, warum der das sagt. Ich habe bis heute aus gutem Grund Respekt vor der Atemwegssicherung und bringe das auch Anderen so bei“, sagt ein Anästhesist.
„Hatte letzte Woche einen AA im 2. Ausbildungsjahr. Er war der Meinung, dass er mit 18 Monaten Anästhesieerfahrung ‚erfahren‘ ist“, erzählt eine erfahrene Pflegefachkraft. „Das ist 'ne sehr gefährliche Phase, wenn AÄ die Angst verlieren und noch nicht wirklich alles überblicken bzw. wissen, was passieren kann“, gibt sie zu bedenken.
Dass etwas schief geht, „kann ganz erfahrenen Ärzten passieren“, schaltet eine Assistenzärztin sich in die Diskussion ein. „Habe trotzdem leider immer das Gefühl, dass die ungesund selbstbewusste Fraktion besser durchs Leben kommt. Das ist auch ein modernisierungswürdiger Aspekt in unserem System“, fügt sie noch hinzu – und postet einen vom NHS produzierten Film über eine Routine-Operation, die schiefging. „Genau das zeige ich den WBAs auch immer“, bestätigt ein Intensivmediziner.
Darin geht es um Martin Bromiley. Er gründete 2007 die Clinical Human Factors Group – eine Vereinigung, die dabei helfen soll, die Patientensicherheit zu verbessern. Der Grund, warum sich der ehemalige Pilot zu der Gründung entschied: Seine Frau Elaine war wegen einer Routine-OP der Nasennebenhöhlen im Krankenhaus gewesen. Sie starb 13 Tage nach dem geplanten Eingriff.
Der größte Fehler, den Ärzte machen können, ist, das Bewusstsein dafür zu verlieren, dass Fehler passieren können – so könnte man die Kernbotschaft von Martin Bromiley zusammenfassen. Gänzlich verhindern lassen sich Fehler in der Medizin natürlich nicht, denn Irren ist nunmal menschlich. Doch es lässt sich durchaus daran arbeiten, sein Fehlerpensum zu reduzieren, wie er betont.
Zu etwa 80 Prozent lasse sich laut Bromiley mittlerweile nachvollziehen, was an diesem Tag geschehen war. Für alle, die diesen Fall noch nicht kennen, hier der Ablauf der Ereignisse: Ein erfahrener Anästhesist und seine Assistenten behandelten die Patientin. Zunächst kam eine Larynxmaske zum Einsatz, zuvor war eine eingehende präoperative Untersuchung erfolgt. Es gab keinen Grund zur Sorge zu diesem Zeitpunkt.
Dann wurde die Patientin anästhesiert. Weil die erste Maske nicht passte, probierte man eine zweite und verabreichte noch mehr Medikamente, um die Muskulatur zu entspannen. Schnell war dem Behandlerteam klar, dass etwas nicht stimmte. Nach zwei Minuten lag die Sauerstoffsättigung bei 75 Prozent und sie fiel weiter. Ihre Haut hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine bläuliche Farbe. Die Sauerstoffsättigung war innerhalb von vier Minuten auf 40 Prozent oder noch weniger gesunken – über den genauen Zeitraum gebe es Unstimmigkeiten, wie Bromiley erklärt.
Sicher ist aber, was in den folgenden sechs bis acht Minuten passierte: Der Anästhesist hatte den Versuch gestartet, die Patientin zu intubieren. Weiterhin lag die Sauerstoffsättigung bei maximal 40 Prozent, die Herzfrequenz fiel. Außerdem betrat der HNO-Arzt den OP. Ein weiterer Anästhesist, der von den Schwierigkeiten mitbekommen hatte, kam hinzu, um zu helfen. Mindestens drei gerufene Schwestern trafen ein. Die Ärzte versuchten weiterhin, zu intubieren, doch nach 10 Minuten mussten alle Beteiligten einsehen, dass keine Beatmung mehr möglich war.
Das Team bestand aus einem Anästhesisten mit 16 Jahren Erfahrung, der HNO-Arzt verfügte über 30 Jahre Erfahrung, der andere Anästhesist war Spezialist für Atemwegsprobleme, drei der vier Schwestern wiesen sehr gute Berufserfahrung auf. Nach diesen 10 Minuten passierte Folgendes: Drei Fachärzte unternahmen für einen Zeitraum von 15 Minuten weitere Intubationsversuche und es gelang ihnen, die Sauerstoffsättigung von Elaine schließlich auf 90 Prozent anzuheben. Mittlerweile waren insgesamt 25 Minuten vergangen. Mehr als 20 Minuten hatte die Sauerstoffsättigung bei 40 Prozent oder darunter gelegen.
Immer noch reicht die Beatmung nicht aus, weshalb die Ärzte noch etwas experimentieren. Erneut fällt die Sauerstoffsättigung weitere 10 Minuten lang unter 90 Prozent. Nach 35 Minuten treffen die Mediziner die Entscheidung, die Patientin auf natürlichem Wege aufwachen zu lassen. Sie wird in den Aufwachraum gebracht, wo sie anderthalb Stunden liegt. Doch sie wacht nicht auf.
„Aus den Aussagen im Rahmen der Untersuchung und aus dem Bericht […] geht hervor, dass der leitende Anästhesist, wenn man ihn als solchen bezeichnen kann, nach eigenen Worten die Kontrolle verloren hat. Fraglich bleibt, wer in den verschiedenen Phasen als verantwortlich angesehen wurde“, schildert Bromiley die Ereignisse. „Sicherlich war man sich gar nicht bewusst, wie viel Zeit bereits vergangen war und auch der Ernst der Lage wurde nicht richtig erfasst. Man kann wohl sagen, dass sich nicht alle Fachärzte darüber im Klaren waren, was eigentlich passierte.“
Notwendige Entscheidungen blieben aus, außerdem hatte die Kommunikation an diesem Tag nicht einwandfrei funktioniert – das wird vor allem deutlich, wenn man sich die Rolle der Pflegekräfte in diesem Szenario genauer ansieht, wie Bromiley erklärt: „Die Sache mit den Schwestern ist wieder eine ganz andere. Ihnen war eigentlich klar, was passierte und was passieren musste.“ Laut Bericht passierte unter anderem Folgendes: „Als die drei Schwestern nach sechs bis acht Minuten eintrafen, bat eine von ihnen eine Kollegin, das Tracheotomie-Set zu holen, im OP gab es ein Notfall-Set. Sie ging hinaus, holte es, kam zurück und sagte den Fachärzten, das es jetzt bereit stünde. Darauf bekam sie keine Antwort.“
Es gab noch eine weitere Pflegekraft, die die Initiative ergriff: „Eine der anderen hereinkommenden Schwestern sah sofort Elaines Hautfarbe und erkannte die bedrohliche Situation und ging hinaus, um in der Intensivstation anzurufen. Sie bat telefonisch darum, schnell ein freies Bett vorzubereiten. Sie kam zurück und sagte den drei Fachärzten, dass auf der Intensivstation ein Bett bereitstehe. Ihren eigenen Worten nach sahen sie die Ärzte so an, als ob sie sagen wollten: Was ist los? Sie übertreiben. Daraufhin ging sie wieder und bestellte das Bett ab.“
Zwar war zwei der vier Schwestern klar gewesen, was in der Situation zu tun gewesen wäre, doch bei der Untersuchung gaben sie an, dass es ein Kommunikationsproblem gegeben hatte. Sie wussten nicht, wie sie ihre Gedanken zur Sprache bringen sollten.
Wie lassen sich solche Fehler im Alltag reduzieren? Bromiley schlägt vor, das Bewusstsein für Fehlerquellen zu trainieren, indem man sich, nachdem etwas schief gelaufen ist, fragt: An welchen Stellen kam es zu Fehlern? Für den Fall Elaine zählt er hier sechs Punkte auf: Führungsstärke, Situationsbewusstsein, Priorisierung, Entscheidungskraft, Kommunikation und Durchsetzungsfähigkeit. „Diese menschlichen Faktoren liegen ironischerweise bei 75 Prozent aller Flugzeugunglücke vor“, erklärt der ehemalige Pilot. In der Luftfahrt werde das Wissen über diese Faktoren genutzt, um die täglichen Arbeitsprozesse zu verbessern. „Der menschliche Faktor ist Teil unserer Alltagssprache, allerdings verstehe ich noch nicht ganz, warum er nicht Teil der Klinikpraxis ist.“
Im Zentrum stehe laut Bromiley die Chance, aus Fehlern wie diesen zu lernen. „Menschliche Faktoren zeigen uns, dass wir alle Fehler machen, auch wenn wir gut sind. Und dass wir die Hilfe anderer brauchen.“ Alle Beteiligten des medizinischen Personals nahmen ihre Arbeit wieder auf und genau das war ihm besonders wichtig. „Nur wenn man an den Arbeitsplatz zurückkehrt, kann man seine Erfahrungen an die Kollegen weitergeben. Zweifellos werden jetzt alle nach diesen Geschehnissen noch bessere Arbeit leisten.“
Bildquelle: Austin Distel, unsplash