Als Intensivmediziner platzt mir langsam der Kragen. Nach wie vor kursieren wilde Theorien um „gefälschte“ Intensivbetten-Zahlen. Das eigentliche Problem ist aber ein anderes.
Die dritte Coronawelle in Deutschland flaut ab und mit ihr entspannt sich auch die Situation in Krankenhäusern und Intensivstationen. Doch wieder einmal geht es in den Medien um das Geschäft mit den Intensivbetten während der Pandemie. Abrechnungsbetrug und Zahlentricksereien habe es gegeben, unter dem Hashtag #DIVIGate werden wilde Skandale und Verschwörungstheorien heraufbeschworen. Eine große deutsche Boulevardzeitung spannt sogar den Bogen von angeblich durchweg „gefälschten“ Intensivzahlen zu einer völligen Überflüssigkeit der im Herbst und Winter beschlossenen Lockdown-Maßnahmen.
Ich bin Intensivmediziner und arbeite seit nunmehr 15 Monaten durchgehend auf einer Intensivstation mit COVID- und Nicht-COVID-Patienten und langsam platzt mir der Kragen. Während Politiker sich gegenseitig die Schuld zuschieben, geht es in der ganzen Diskussion viel zu wenig um das wahre Problem, das wir in der Versorgung haben.
Der eigentliche Skandal um die Intensivbetten ist doch, dass Jens Spahn mit vollen Händen Steuergelder verschwendet hat, die in den Taschen von Klinikkonzernen gelandet sind, anstatt die Personalstruktur und die Patientenversorgung zu verbessern.
Zu Beginn der Pandemie meldeten viele Kliniken jede Abstellkammer als Intensivbett, weil der Bund dafür Beatmungsgeräte und Perfusoren lieferte und es Ausgleichszahlungen für jedes neu geschaffene Bett gab. Personal wurde keines eingestellt. Als im Herbst die Fallzahlen stiegen und die zweite Welle über die Krankenhäuser hereinbrach, wurde es richtig eng. Sukzessive wurden Versorgungskapazitäten wieder aus dem Intensivregister gestrichen, die aufgrund mangelnden Personals niemals belegbar gewesen waren. Ich denke, inzwischen sollte jeder begriffen haben, dass Betten und Beatmungsgeräte keine Patienten versorgen, sondern hierzu spezialisierte Fachkräfte mit einer mehrjährigen Ausbildung benötigt werden.
Ich kann für meinen Intensivbereich sagen, dass wir üblicherweise zehn reguläre Intensivbetten betreiben. Durch unbesetzte Stellen gibt es etwa genug Pflegepersonal für neun, das heißt schon im „Regelbetrieb“ fallen Überstunden an. Seit 2020 mussten mehrfach aufgrund Quarantäne, Erkrankungen und Personalmangel bis zu vier der Betten gesperrt werden. An anderen Tagen waren wir mit bis zu 13 Patienten überbelegt und mussten Personal aus dem OP abziehen und intensivpflichtige Patienten im Aufwachraum versorgen, damit der Betrieb nicht zusammenbricht. Von den vielen Patienten, die aufgrund mangelnder Versorgungskapazität teils weite Strecken in andere Krankenhäuser verlegt wurden, ganz zu schweigen.
Die Geschäftsführungen waren vielerorts unfähig oder gar unwillens, neue Behandlungskapazitäten zu schaffen. Der Stellenmarkt für medizinisches Fachpersonal ist leergefegt und gutes Personal kostet Geld. Bei allen vermeintlichen oder tatsächlichen Taschenspielertricks der Controlling-Abteilungen ändern Bettenmeldungen, -streichungen und Ausgleichszahlungen NICHTS an Pflegemangel und Überlastung des Intensivpersonals. Bis auf einen eher symbolischen „Coronabonus“ oder einen feuchten Händedruck wurden trotz erheblicher Mehrbelastung vielerorts keine Erleichterungen geschaffen.
Am Heraufbeschwören von Horrorszenarien habe ich als operativer Intensivmediziner übrigens überhaupt kein Interesse. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als endlich wieder zum „Regelbetrieb“ zurückzukehren und meine chirurgischen und traumatologischen Patienten zu versorgen. Ich habe das an anderer Stelle schon öfter erwähnt, aber zehn „reguläre“ ITS-Betten kann man nicht einfach mit zehn beatmeten COVID-Patienten belegen, weil letztere viel aufwändiger zu versorgen sind (Isolation, Lagerungstherapie, Organersatzverfahren etc.). Da die allerwenigsten Intensivstationen nur Einzelzimmer haben, wird in der Regel zudem durch einen COVID-Patienten rein physikalisch mehr als ein Bett belegt. Nicht zuletzt wegen der aufkommenden Virusvarianten und deren aufwändiger Sequenzierung ist meist nicht einmal eine Kohortenisolation möglich.
Ein weiteres Grundproblem ist: Wenn ein Krankenhaus von irgendwoher ein paar Millionen zusätzlich bekommt, wird lieber ein neues MRT oder Herzkatheterlabor angeschafft, anstatt ein paar neue Pflegekräfte oder Assistenzärzte einzustellen. Aus dem simplen Grund, dass dies mehr Profit generiert. Die Leidtragenden sind die unterversorgten Patienten und das überarbeitete Personal. Das ganze DRG-Finanzierungssystem und die Profitorientiertheit des Gesundheitssystems krankt seit vielen Jahren und dies rächt sich insbesondere in Zeiten einer Pandemie, denn: MIT SCHWERKRANKEN PATIENTEN KANN MAN KEINEN PROFIT GENERIEREN! Ich will sogar weitergehen und sagen, Profit sollte und DARF niemals Ziel einer Patientenversorgung sein.
Doch insbesondere private Klinikkonzerne nutzen das eigentlich zur Kostendeckung konzipierte System knallhart aus. Das funktioniert nur, wenn man Personal ausbeutet oder Patienten schlecht versorgt. Beispiele gibt es unzählige, zum Beispiel hier oder hier. Auf der anderen Seite wurde massive Lobbypolitik vom Verband der deutschen Privatkliniken betrieben und in einer dramatischen Pressemeldung gar vor Insolvenzen und Massenentlassungen gewarnt. Letztere gab es übrigens trotz Rekordgewinnen tatsächlich.
All das ist weder neu noch überraschend und das Gesundheitsministerium, allen voran Jens Spahn, weiß das genau. Schließlich war der Herr Minister seit vielen Jahren als Lobbyist im Pharma- und Gesundheitswesen tätig. Die angebliche naive Unwissenheit kaufe ich ihm nicht ab.
Als einfacher Beschäftigter in der Patientenversorgung komme ich mir langsam von allen Seiten veräppelt vor. Seit über einem Jahr arbeiten wir unter widrigsten Bedingungen und bis auf warme Worte kam wenig Unterstützung von der Politik. Die Arbeitsbedingungen sind unverändert und selbst langjährige Mitarbeiter im Gesundheitswesen wurden durch diese Pandemie endgültig an oder über ihre Belastungsgrenze getrieben. Nun werden Rekordgewinne gemeldet und Betrugsvorwürfe laut. Es sei ja alles gar nicht so schlimm gewesen und die Kliniken hätten nur künstlich ihre Versorgungskapazität verknappt um mehr Geld zu kassieren. Wieder fühlt man sich betrogen.
Dabei offenbart sich das Grundproblem: Krankenhäuser sollten einzig und alleine der Patientenversorgung dienen und weder Insolvenzen fürchten, noch Gewinne erwirtschaften müssen. Ich persönlich bin froh, dass ich bei einem öffentlichen Arbeitgeber arbeite, wo das Klima noch einigermaßen stimmt und nicht bei jeder Entscheidung Bilanz und Aktionäre im Vordergrund stehen. Doch auch hier verschärft sich der ökonomische Druck von Jahr zu Jahr.
Mein Text kling vielleicht wütend und verbittert, aber das musste jetzt einfach mal raus. Ich bin mit Leib und Seele Arzt und Intensivmediziner. Ich mache meinen Job immer noch gern und würde den Beruf höchstwahrscheinlich nochmals genauso ergreifen. Abrechnung und Bilanzen sind mir ehrlich gesagt egal, denn was zählt, ist eine gute Versorgung unserer Patienten.
Bildquelle: Mehmet Turgut Kirkgoz, unsplash