SARS-CoV-2 drosselt die Autophagie und entgeht so dem Abbau. Auf Basis dieser neuen Erkenntnis untersuchten Forscher jetzt vier Substanzen: vom Bandwurmmittel bis zum Spermidin, das in reifem Käse vorkommt.
Viren sind für ihre Vermehrung von der Maschinerie der Wirtszelle abhängig und nutzen deren molekulare Bausteine. Um vom Immunsystem nicht entdeckt zu werden, müssen sie gleichzeitig dafür sorgen, dass sie den zellulären Überwachungssensoren entgehen. Dazu manipulieren sie verschiedene Prozesse innerhalb der gekaperten Zelle – und jedes Virus verfolgt dabei eine unterschiedliche Strategie.
Ein Team um Dr. Marcel Müller vom Institut für Virologie der Charité und Dr. Nils Gassen von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Bonn hat jetzt untersucht, wie SARS-CoV-2 die Zelle zu seinen Gunsten umprogrammiert. Die wichtigste Erkenntnis: Das neue Coronavirus drosselt den zelleigenen Recycling-Mechanismus – die Autophagie.
„Wir konnten in unserer Studie zeigen, dass SARS-CoV-2 zwar die Bausteine der Zellen für seine eigenen Zwecke nutzt, ihnen gleichzeitig aber auch Nahrungsreichtum vortäuscht und damit das zelluläre Recycling bremst“, erklärt Gassen, Erstautor der Studie. Dafür analysierten die Forscher im Detail den Stoffwechsel und die Verarbeitung molekularer Signale in SARS-CoV-2-infizierten Zellen und Lungengewebe von COVID-19-Patienten.
„Vermutlich entgeht SARS-CoV-2 so seinem eigenen Abbau, denn auch Viren werden von der Zelle per Autophagie entsorgt“, ergänzt Letztautor Müller. „Dieselbe Umprogrammierungsstrategie verfolgt auch das MERS-Coronavirus, für das wir die Hemmung der Autophagie bereits vor über einem Jahr zeigen konnten. Es gibt jedoch auch Coronaviren, die im Gegenteil die Autophagie anregen; das sind insbesondere solche, die Tiere befallen.“ Die Ergebnisse der Untersuchung legten nahe, dass der Recycling-Mechanismus ein möglicher Angriffspunkt für die COVID-19-Therapie sein könnte. Die Forscher prüften daher, ob Substanzen, die das Zell-Recycling ankurbeln, die Vermehrung von SARS-CoV-2 in Zellen bremsen können.
Tatsächlich erwiesen sich vier Verbindungen als wirksam – und zwar solche, die bei Menschen bereits angewendet werden. Dazu zählte das Polyamin Spermidin, ein Autophagie-förderndes Stoffwechselprodukt, das jede Zelle des Körpers selbst herstellen kann und auch von Bakterien im Darm produziert wird. Es kommt in Nahrungsmitteln wie Weizenkeimen, Soja, Pilzen oder reifem Käse vor und ist auch als Nahrungsergänzungsmittel frei erhältlich. Gaben die Wissenschaftler Spermidin zu SARS-CoV-2-infizierten Zellen, produzierten die Zellen 85 Prozent weniger infektiöse Viruspartikel. Auch Spermin, ein mit Spermidin verwandtes körpereigenes Polyamin, reduzierte die Virusproduktion um mehr als 90 Prozent in menschlichen Lungenzellen und Darm-ähnlichen Zellverbünden, den Organoiden.
„Diese deutlichen Effekte von Spermidin und vor allem Spermin sind einerseits natürlich ermutigend, weil bei körpereigenen Stoffen erst einmal weniger Nebenwirkungen zu erwarten sind“, sagt Müller. „Allerdings haben wir mit Reinsubstanzen gearbeitet, die in dieser Form nicht für eine medikamentöse Einnahme geeignet sind. Insbesondere Spermidin ist in der Zellkultur erst bei einer recht hohen Konzentration nennenswert wirksam. Bevor man die Polyamine für eine Behandlung von COVID-19 in Betracht ziehen kann, sind deshalb noch viele Fragen zu klären: Erreicht man im Organismus überhaupt eine Konzentration im Blut, die für eine Hemmung der Virusvermehrung in den Atemwegen ausreicht? Und wenn ja: Wäre eine Gabe vor oder während der Infektion sinnvoll? Gibt es Nebenwirkungen?
Die Erkenntnisse aus der Zellkultur seien aber ein guter Ausgangspunkt für Studien am Tiermodell, so Müller weiter. Von einer Selbsteinnahme sei abzuraten – „auch, weil Viren Polyamine für ihre Vermehrung nutzen und es daher auf die richtige Dosierung ankommt. Dasselbe gilt für das Fasten, das die Autophagie im Körper anregen kann: Es ist nicht klar, ob COVID-19-Patienten vom Fasten profitieren würden, da der Körper ja während einer Infektion viel Energie für die Immunreaktion braucht.“
Die dritte Substanz, die sich als wirksam gegen SARS-CoV-2 erwies, war MK-2206, ein AKT-Hemmer. Der Wirkstoff wird derzeit in klinischen Studien auf seine Verträglichkeit und Wirksamkeit gegen verschiedene Krebsarten hin untersucht. In der aktuellen Arbeit reduzierte MK-2206 die Produktion von infektiösen SARS-CoV-2 um rund 90 Prozent – und zwar in Konzentrationen, die in einer früheren Studie im Blutplasma der Teilnehmer bereits erreicht wurde. „Auf Basis unserer Daten halte ich MK-2206 für einen interessanten Wirkstoffkandidaten gegen COVID-19, der nach sorgfältiger Risiko-Nutzen-Analyse auch klinische Studien rechtfertigen würde“, erklärt Müller.
Die Verbindung mit dem größten antiviralen Effekt war das Bandwurmmittel Niclosamid, das sich in einer früheren Studie des Forschungsteams bereits als wirksam gegen das MERS-Coronavirus gezeigt hatte: Es senkte die Produktion infektiöser SARS-CoV-2-Partikel um mehr als 99 Prozent. „Niclosamid hat in unseren Zellkultur-Untersuchungen den stärksten Effekt gezeigt und ist außerdem ein seit Jahren für Bandwurm-Infektionen zugelassenes Medikament, das bei potenziell wirksamen Dosierungen gut verträglich ist“, sagt Müller. „Wir halten es für den vielversprechendsten der vier neuen Wirkstoffkandidaten. Deshalb prüfen wir an der Charité jetzt im Rahmen einer klinischen Studie, ob Niclosamid auch bei COVID-19-Betoffenen positive Effekte erzielen kann.“
In der Phase-II-Studie mit dem Titel NICCAM wird untersucht, ob Niclosamid in Kombination mit dem ebenfalls zugelassenen Medikament Camostat bei Patienten mit kürzlich (vor wenigen Tagen) diagnostiziertem COVID-19 sicher anwendbar, verträglich und wirksam ist.
Dieser Artikel basiert auf einer gemeinsamen Pressemitteilung der Charité, der Universität Bonn und des DZIF.
Bildquelle: Lee Vue, unsplash