Auch sehr schwache Strahlung kann physiologische Veränderungen in der Zelle bewirken, die anders und stärker sind als bisher angenommen. Das LNT-Modell hätte damit bei schwacher Bestrahlung keine Gültigkeit mehr. Eine neue Sichtweise auf die Rolle der täglichen Strahlenexposition?
Sehr niedrig dosierte Strahlung hat Auswirkungen auf die Zelle, die man bisher nicht kannte. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forscherteam rund um Dr. Valerie Brid O’Leary am Institut für Strahlenbiologie am Helmholtz Zentrum München. Insbesondere die Aktivität von Teilen des nicht-kodierenden Genoms sorgt dafür, dass auch Strahlungsdosen unter 0.1 Gray Ausdruck in der Ausprägung bestimmter Botenstoffe finden. Dies wirft einerseits ein neues Licht auf die Wirkung ionisierender Strahlung, andererseits hilft es bei der Aufklärung der Funktionen von nicht-kodierenden Teilen des Genoms.
Bei der Einschätzung der Strahlenwirkung folgte bisher die Lehrmeinung dem LNT-Modell (engl. Linear No Threshold), das davon ausgeht, dass die Gefährlichkeit von Strahlung linear mit abnehmender Dosis fällt. O’Leary und ihr Team konnten nun aber nachweisen, dass beispielsweise die Expression von MAT2A, einem Tumor-Suppressor-Gen, durch einen Abschnitt der nicht-kodierenden RNA mit dem Namen PARTICLE reguliert wird. Dieser wiederum lässt sich bereits durch sehr niedrig dosierte Strahlung aktivieren. Sie scheint Auswirkungen auf die Methylierung zu haben. „Ob das einen Einfluss auf das Krebsrisiko hat, lässt sich mit unseren heutigen Untersuchungen noch nicht sagen, aber es ist nicht ausgeschlossen“, sagt O’Leary. „Viel wichtiger aber ist die Tatsache, dass wir zeigen konnten, dass es Strahlenwirkungen gibt, die bisher überhaupt nicht bekannt waren. Das ist ein völlig neues Forschungsgebiet.“
Die Forscher konnten damit untermauern, dass die Auswirkungen auch geringster Dosen physiologische Veränderungen in den Zellen nach sich ziehen, die über die Mutation von Genen, wie man sie als Strahlenschäden bisher kannte, weit hinausgehen. Das LNT-Modell verliert damit, so die Forscher, seine Gültigkeit bei schwacher Bestrahlung. Auch wenn bisher noch zu wenig konkrete Einzelheiten bekannt sind, könnte diese Erkenntnis auf lange Sicht weitreichende Folgen haben bei der Abschätzung der Wirkung von Strahlentherapie oder für den Arbeitsschutz. Im nächsten Schritt will das Forscherteam weitere Abschnitte der nicht-kodierenden RNA und ihre Rolle bei der Strahlenwirkung untersuchen. Originalpublikation: PARTICLE, a Triplex-Forming Long ncRNA, Regulates Locus-Specific Methylation in Response to Low-Dose Irradiation Valerie Brid O’Leary et al.; Cell Reports, doi: 10.1016/j.celrep.2015.03.043; 2015