Konzentrations- und Entspannungsübungen verbessern Physiologie und Heilung. Sie sind Teil der Komplementärmedizin, die es aufgrund unseriöser Heilsversprechen zu Recht schwer hat. Ein seriöser, integrierter Ansatz könnte das tatsächliche Potential auf breiter Basis nutzen.
Kritiker in Deutschland sprechen von einem „populistischen Kniefall“ der modernen Medizin – oder auch von einer „konzeptionellen Beliebigkeit“. Komplementär- und Alternativmedizin haben es gerade wegen unseriöser Heilsversprechen von Scharlatanen und Wunderheilern schwer, obwohl der Patientenwunsch eine ganz andere Sprache zu sprechen scheint. Homöopathie, Akupunktur und Techniken der traditionellen chinesischen Medizin werden von Jahr zu Jahr beliebter.
In den USA gibt es um die „Alternative zur Schulmedizin“ weniger Aufregung. Begriffe wie „Salutogenese“ oder „Resilienz“ stehen dort im Ausbildungskonzept vieler medizinischer Fakultäten. Darunter finden sich auch die ganz prominenten Namen wie das Memorial Sloan Kettering oder Harvard. Dort hat man früh erkannt, dass sich etwa die Mind-Body-Medizin und gesicherte Erkenntnisse der EBM (Evidenzbasierte Medizin) durchaus nicht ausschließen. Mind-Body-Medizin versucht, seelische und neuronale Aktionen für die Genesung zu nutzen. Zu ihr gehört etwa „Achtsamkeit“, die Einübung von fokussierter Wahrnehmung mittels Konzentrationsübungen oder auch Meditationen. Den Begriff brachte der amerikanische Molekularbiologe Kabat-Zinn aus der asiatischen Spiritualität mit und passte ihn an die westliche Kultur an. Die Wirkung geht dabei über einfache Entspannungsübungen für den Körper hinaus, und zielt auf eine nachhaltige Wirkung gegen Krankheiten. Letztendlich lernt der Mensch dabei auch, seine Stoffwechselreaktionen durch kognitive Prozesse zu steuern und für seine Gesundheit positiv zu nutzen.
Der Einfluss solcher Übungen auf den Stoffwechsel ist inzwischen vielfach bewiesen. Er schüttet weniger Kortisol aus, ebenso verändern sich die Spiegel von Zytokinen und anderen Regulatoren des Immunsystems. Die Folgen einer solchen Steuerung und der Wiederherstellung eines seelischen Gleichgewichts finden sich in den Berichten medizinischer Fachzeitschriften: Optimisten erholen sich besser von medizinischen Prozeduren wie etwa einer koronaren Bypass-OP, überstehen Infektionen leichter und haben durchweg ein längeres Leben. Eine kleine Studie von Tobias Esch an Studierenden in Coburg zeigte den Effekt eines achtwöchigen Stress-Management-Trainings mit den Mitteln der Mind-Body-Medizin: Nicht nur Lebensqualität und Stressresistenz sowie psychisches Wohlbefinden stiegen an. Auch der körperliche Gesundheitszustand verbesserte sich. Nachweisbare Erfolge erzielte diese Art der Komplementär-Heilkunde schließlich bei Multipler Sklerose, wo sich unter anderem die Fatigue-Symptome besserten.
Stammesgeschichtlich alte Gehirnteile im limbischen System wie etwa die Amygdala sind wesentlich an Selbstheilungsmechanismen beteiligt, vielfach aktiviert durch Dopamin. Veränderungen lassen sich durch entsprechende Bildgebung schon nach elf Trainingsstunden bemerken. Dabei reichen, so Elissa Epel [Paywall] von der University of California, schon ein paar Minuten Konzentration auf den eigenen Atem in den Pausen zwischen der Arbeit. Im Vergleich zu Stressgeplagten ist bei ausgeglichenen Menschen das sympathische Nervensystem gedämpft, das parasympathische dafür stärker aktiviert. Stress und Angst, zwei natürliche Reaktionen aus der Frühzeit menschlichen Lebens, bilden, wenn sie nicht mehr abgestellt werden können, Radikale, die wiederum unerwünschte Stoffwechselprodukte erzeugen. Auch die Telomerase-Spiegel, wahrscheinlich mit bedeutender Rolle beim Alterungsprozess, sind bei Menschen niedriger, die gelernt haben, ihren Stresspegel selber zu regulieren. Schließlich zeigen die Genaktivierungsmuster in Leukozyten bei Teilnehmern von Anti-Stress-Kursen schon nach wenigen Wochen signifikante Unterschiede und ähneln jenen, die jahrelang Yoga praktizieren.
Wahrscheinlich wirken die gesundheitsfördernden Mechanismen der Mind-Body-Medizin auch auf unbewusste Weise. Was aber im Gehirn von Geübt-Ausgeglichenen vor sich geht, ähnelt auch den Reaktionen jener Menschen, die in klinischen Studien vom Placebo-Effekt profitieren. Wahrscheinlich sind es auch hier die positive Erwartung und der Glaube an den Effekt der Behandlung, die entsprechende heilbringende Prozesse stimulieren. Das Placebo wirkt sogar dann, wenn der Patient aufgeklärt und sich dessen bewusst ist, dass seine Pille nicht den Wirkstoff aus der Pharmaforschung enthält, und vom Arzt erfährt, dass seine Arznei schon vielen anderen Kranken geholfen hat. Wer weiß, dass Patienten in Deutschland jedes fünfte Medikament nicht oder nicht richtig einnehmen, dass zwei von fünf Pillen gegen Depressionen und 50 Prozent aller Antihypertonika im Abfall landen, der wird schon aus ökonomischen Gründen versuchen, Placebos einen neuen Stellenwert zu geben. So wie es die Bundesärztekammer 2011 in einer mehr als 200-seitigen Stellungnahme getan hat. Eine Expertise von Klaus Linde und Karin Meissner legt den Schluss nahe, „dass Placebointerventionen zwar nicht in den pathogenetischen Prozess einer Erkrankung eingreifen, jedoch sehr wohl funktionelle, objektivierbare Besserungen hervorrufen können“. In der Praxis, soviel ist sicher, wirken sich Rituale günstig auf die Heilserwartungen des Patienten und damit auch auf seine realen Heilungschancen aus. Eine Spritze, ein Rezept und vor allen Dingen ein Arzt, der seinen Patienten nicht nur durch Handeln, sondern auch mit Worten von seinen Qualitäten überzeugt, steigern die Genesungsrate. Wenn der Arzt mit einer Placebotherapie nicht den Vertrauensvorschuss des Patienten missbraucht, sondern ihn über den Hintergrund seiner Vorschläge informiert, gerät er auch nicht in Konflikt mit dem Selbstbestimmungsrecht des Kranken und seinem eigenen Berufsethos.
Zulauf bekommen Vertreter alternativer Heilmethoden vor allem deswegen, weil bei ihnen ein größeres Zeitbudget an Zuwendung zum Patienten vorhanden ist. Jutta Hübner von der deutschen Krebsgesellschaft spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer Auslagerung der Aufgabe „Menschlichkeit“ auf zusätzliche Behandler und meint damit die Vertreter alternativer Therapien. „Eine gefährliche Entwicklung“, meint nicht nur sie. Schon seit dem Jahr 2000 bemüht sich der Arbeitskreis „Pluralismus in der Medizin“ um ein Zusammenkommen von traditioneller Schulmedizin und Therapieformen, die darüber hinausgehen. Das vom ehemaligen Ärztekammer-Präsidenten Hoppe mitbegründete Dialogforum will aber auch unseriöse und fragwürdige Heilslehren abgrenzen. Die ärztliche Therapiefreiheit und Individualität in der Patientenbehandlung mit einer höheren Eigenverantwortung des Patienten kombinieren, so stellen sich die Mitglieder eine integrative Medizin der Zukunft vor. Auf der Webseite des Dialogforums finden sich Links zu Datenbanken der Komplementärmedizin, Literaturhinweise und Hinweise auf Veranstaltungen und Forschungsinstitutionen.
Bei aller Begeisterung für die „Integrative Medizin“ sollte man die weitere Entwicklung aufmerksam und wachsam verfolgen. In einem kritischen Artikel zur integrativen Onkologie schreibt etwa David Gorski von der Wayne State University in Detroit in ,Nature Reviews Cancer‘: „Unglücklicherweise beobachten wir, dass zumindest die derzeitige Form integrativer Medizin einen beträchtlichen Teil an schlechter und Pseudowissenschaft einschließt“. Es stimmt: Für viele Anwendungen, die sich zuweilen den Mantel der Mind-Body-Medizin umhängen, gibt es noch keine oder nur sehr wenige gute Studien. Die Hürden, die ein neuer Wirkstoff oder eine neue Therapieoption in der Schulmedizin bis zur Anerkennung nehmen muss, sollten für Naturheilkunde und die anderen alternativen Medizinformen nicht kleiner sein. Nicht nur die große Nachfrage unzufriedener Patienten, sondern auch die Chancen, die Psyche ebenso wie die genaue Kenntnis des menschlichen Stoffwechsels für die Heilung zu nutzen, könnten einer seriösen Form der sogenannten Mind-Body-Medizin zu einer verheißungsvollen Zukunft verhelfen.