„Wenn ich gezwungen werde, Abtreibungen durchzuführen, höre ich auf“, sagt ein Arzt. Die Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern von Abtreibungen flammt mit dem Matić-Bericht neu auf.
Der Paragraf 218 tauchte vor 150 Jahren erstmals im Reichsstrafgesetzbuch auf und stellte den Schwangerschaftsabbruch unter eine Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren. Eine schrittweise Liberalisierung der Gesetzeslage erlaubte Abbrüche, die von Ärzten durchgeführt wurden, sofern Leben oder Gesundheit der Frau bedroht waren. Nach 1945 rückten soziale Aspekte und Notlagen stärker in den Fokus, eine Rechtssicherheit gab es nicht.
Aus der Studentenbewegung 1968 ging die moderne Frauenbewegung hervor, die in Sachen Paragraf 218 in einer spektakulären Aktion gipfelte: Die Feministin Alice Schwarzer bewegte 1971 über 300 prominente und weniger prominente Frauen dazu, sich öffentlich zu ihrer Abtreibung zu bekennen. Unter dem Titel „Wir haben abgetrieben“ postulierten sich Schauspielerinnen wie Romy Schneider und Senta Berger auf dem Cover des Magazins Stern. Die neue Frauenbewegung forderte unter dem Motto „Mein Bauch gehört mir“ eine ersatzlose Streichung des Paragrafen 218.
Der Bundestag beschloss 1974 die Fristenlösung. Damit wurde ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen erlaubt. Das Bundesverfassungsgericht stoppte die Fristenlösung per Eilbeschluss und erklärte den liberalisierten Paragraf 218 für verfassungswidrig. Das Recht auf Leben gelte von Anfang an, auch für das Ungeborene. 1976 beschloss der Bundestag die Indikationslösung. Damit war ein Abbruch rechtmäßig bei einer medizinischen oder sozialen Notlage, nach einer Vergewaltigung oder bei einem Kind mit Behinderung. Die Wiedervereinigung drängte auf eine einheitliche Rechtslage, in der ehemaligen DDR galt die Fristenlösung, in der BRD die Indikationslösung.
Seit 1995 gilt in Deutschland die angepasste Beratungslösung.
Im Jahr 2020 wurden hier 99.948 Schwangerschaften abgebrochen. Nahezu 96 % (96.110 Abbrüche) wurden nach der Beratungsregel vorgenommen – vorausgesetzt, die 12. Schwangerschaftswoche war noch nicht vollendet, eine anerkannte Beratungsstelle wurde aufgesucht und es waren drei Tage Bedenkzeit vergangen. Knapp 4 % (3.806 Abbrüche) hatten eine medizinische Indikation ohne zeitliche Begrenzung. Hierunter fallen Kinder mit Behinderungen und medizinische Notlagen der Mutter. Weniger als 1 % (29 Abbrüche) wurden aus kriminologischer Indikation vor der vollendeten 12. Schwangerschaftswoche durchgeführt.
Nach Paragraf 218 ist ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland rechtswidrig, durch die Ausnahmeregelungen wird Straffreiheit gewährt. Nach Paragraf 219a dürfen Ärzte, die Abbrüche anbieten, dies offiziell angeben, jedoch ohne Nennung der Methoden.
Die politische Debatte um den Matić-Bericht, vorgelegt vom kroatischen Europaabgeordneten Predrag Fred Matić, wurde zwei Jahre lang geführt. Der Bericht spricht sich u. a. gegen Genitalverstümmelung, Zwangsehen und Diskriminierungen aus. Er fordert die Gleichstellung von Männern und Frauen, Zugang zu Verhütungsmitteln und umfassende Gesundheitsleistungen.
Schwangerschaftsabbrüche werden als Teil der Gesundheitsfürsorge für Frauen gesehen. Die EU-Mitgliedsstaaten werden aufgefordert, Abtreibungen zu entkriminalisieren und Hindernisse dafür aus dem Weg zu räumen. Es wird bedauert, dass in manchen Ländern Ärzte, aber auch ganze medizinische Einrichtungen, von einer Gewissensklausel Gebrauch machen würden. Das führe dazu, dass Schwangerschaftsabbrüche aus religiösen oder Gewissensgründen verweigert werden. Der Bericht weist darauf hin, „dass ein absolutes Verbot von medizinisch betreuten Abtreibungen oder die Verweigerung der Betreuung eines Schwangerschaftsabbruchs eine Form von geschlechtsspezifischer Gewalt ist.“
Lebensrechtsorganisationen hatten bis zuletzt gegen den Matić-Bericht demonstriert. Man befürchte, dass Schwangerschaftsabbrüche dadurch als normale Leistung der weiblichen Gesundheitsfürsorge etabliert werden.
Auch in der medizinischen Arbeitswelt werden zunehmend Diskussionen laut. Befürworter einer vollständigen Legalisierung und flächendeckenden Organisation von Abtreibungen, sehen Deutschland endlich im 21. Jahrhundert angekommen. Andere, für die der Lebensschutz von Anfang an zählt, fühlen ihre Gewissensfreiheit bedroht. „Wenn ich gezwungen werde, Abtreibungen durchzuführen, höre ich auf“, so deren Resümee.
Am 24. Juni 2021 hat das Europäische Parlament dem Matić-Bericht zugestimmt.
Diskussionen um das Thema Abtreibung werden deshalb oft kompromisslos geführt, weil die grundlegende Frage „Wann beginnt Leben?“, unterschiedlich beantwortet wird.
Aber wie kann man zwar kontrovers, doch fair und wertschätzend miteinander diskutieren? Versucht haben dies drei Befürworter und drei Gegner in der ZDF-Sendung 13 Fragen. Während der Diskussion zum Thema „Ist Abtreibung ein Grundrecht?“ stehen sie einander auf einem Abstimmungsfeld gegenüber. Durch Verkleinerung oder Vergrößerung des gegenseitigen Abstandes signalisieren sie ihre Ablehnung oder Zustimmung der anderen Position. Am Ende geht es darum, dass möglichst viele Teilnehmer auf dem gemeinsamen Kompromissfeld ankommen.
Die Influencerin Masha Sedgwick hatte sich in der Vergangenheit für eine Abtreibung entschieden und ist der Meinung, dass die Gründe einer Frau für einen Abbruch keine Rolle spielten. Jede Frau solle selbstbestimmt entscheiden können, ob sie sich dazu fähig fühle, Mutter zu werden. Es handle sich um einen Zellhaufen und das Selbstbestimmungsrecht der Frau sei entscheidend.
Für Cornelia Kaminski, Vorsitzende des Vereins Aktion Lebensrecht für Alle, beginnt menschliches Leben ab der Verschmelzung von Ei und Samenzelle und ist von da an schützenswert. „Töten ist immer ein Akt der Gewalt und wir wissen natürlich auch, dass bei einer Abtreibung ein ungeborenes Kind stirbt.“ Es gehe um zwei Leben, die geschützt werden müssen. Das Kind ist schwächer, und Aufgabe des Staates sei es, den Schwächeren zu schützen.
Die Frauenärztin Dr. Bettina Gaber sieht Abtreibung als ein Grundrecht an, ansonsten würde das Selbstbestimmungsrecht der Frau verletzt werden. Man dürfe nicht das Leben des Kindes über das Leben der Frau stellen. Für sie beginnt das Leben dann, wenn das Kind den Körper der Frau verlässt. Sie selbst bietet Schwangerschaftsabbrüche an und wurde von Abtreibungsgegnern bezüglich des Paragraphen 219a angezeigt.
Für die Psychologin und Podcasterin Sabina Scherer ist ein wichtiger Beweggrund für Abtreibungen, dass alleinerziehende Frauen von der Gesellschaft unzureichend unterstützt werden. Dennoch gäbe es kein Recht, Leben zu beenden. „Abtreibung ist vom Wesen her die Beendigung eines menschlichen Lebens und ich finde, dass das nicht zu einem Grundrecht werden kann, denn ohne das Recht auf Leben sind alle anderen Rechte obsolet.“ Das Selbstbestimmungsrecht endet da, wo das Lebensrecht des Anderen beginnt.
Dr. Michael Kiworr, Gynäkologe und Autor, sieht die Entwicklung eines ungeborenen Kindes als kontinuierlichen Prozess. Das Potenzial ist mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle vorhanden, die Entwicklung von Gehirn, Schmerzrezeptoren und Nervenbahnen ist fließend. Vieles gehe auch nach der Geburt noch weiter. Er wünsche sich mehr Faszination für das ungeborenen Leben und es solle bekannter werden, wie brutal und grausam eine Abtreibung ist. „Letztendlich sind wir alle Zellhaufen, nur viel größere.“
Der Keynote-Speaker Kerim Kakmaci und seine Partnerin hatten sich vor einigen Jahren zu einem Schwangerschaftsabbruch entschlossen. Er spricht von einer seelischen Traumatisierung: „In dem Moment als ich in der Praxis saß währen der Abtreibung, wusste ich, es war die falsche Entscheidung. In dem Moment wurde ein Stück herausgerissen, das war mein Kind.“ Männer müssten mehr in die Entscheidung mit eingebunden werden, letztendlich ist es aber die Frau, die über ihren Körper frei entscheiden darf. Deshalb stehe er auf der Seite der Befürworter, die Abtreibung als ein Grundrecht sehen.
Das gemeinsame Kompromissfeld wurde mehrmals knapp erreicht, letztendlich gab es aber immer wieder Rückschritte auf beiden Seiten bei gegenläufigen Ansichten.
Einig waren sich alle, dass Abtreibung ein kontroverses gesellschaftliches Problem ist, für das es keine einfachen Lösungen gibt. Frauen dürfen in ihrer Not nicht alleine gelassen und sollten bestmöglich unterstützt werden, damit sie diese existentielle Krise meistern können.
Ich denke: Jede gute Antikonzeptionsberatung trägt dazu bei, Schwangerschaftskonflikte erst gar nicht entstehen zu lassen. In ethisch kontrovers diskutierten Situationen bleibt die Forderung nach Gewissensfreiheit eine Notwendigkeit.
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