Bislang setzten Ärzte bei schwerer multipler Sklerose das Medikament Rituximab off-label ein. Nun hat das zehnfach teurere Präparat Ocrelizumab eine Zulassung für die MS-Therapie erhalten. Seitdem sind Ärzte in diesem Fall gezwungen, es zu verschreiben.
Laut Zulassung dürfen Ärzte Rituximab vom Pharmaunternehmen Roche zur Behandlung maligner Lymphome und rheumatoider Arthritis anwenden. Später kamen die Indikationen Granulomatose mit Polyangiitis sowie mikroskopische Polyangiitis hinzu. Off-Label griffen Ärzte auch bei schwerer schubförmig remittierender multipler Sklerose (MS) zum Antikörper. Diese Praxis nimmt ein jähes Ende, nachdem Roche eine Zulassung für den Antikörper Ocrelizumab bei MS bekommen hat. Dieses ist seit Anfang Februar erhältlich. Während Rituximab mit 3.000 Euro pro Jahr zu Buche schlägt, sind es bei Ocrelizumab 33.000 Euro.
Grund genug für das ARD-Magazin „Kontraste“, von „fragwürdigen Geschäften der Pharmakonzerne“ zu sprechen. Ärzte in Deutschland würden nun gezwungen, ihre Patienten auf die Behandlung mit dem mehr als zehnfach teureren Medikament von Roche umzustellen. Die Rollen sind klar verteilt: Big Pharma versucht, Gewinn auf Kosten kranker Menschen zu machen. Ganz so einfach ist die Sachlage jedoch nicht, wie ein Blick auf Details zeigt.
Bei Rituximab handelt es sich um einen chimären monoklonalen Antikörper gegen die Oberflächenstruktur CD20 auf B-Zellen. Diese CD20-positiven B-Zellen spielen bei der Immunreaktion bei MS eine entscheidende Rolle. Chimär bedeutet in diesem Fall, dass es im Antikörper einen hohen Prozentsatz an Mausproteinen gibt, was die Verträglichkeit einschränkt. Wissenschaftlich deutet jedoch viel auf Vorteile bei MS hin. Forscher gaben im Rahmen einer klinischen Phase 2-Studie 104 Patienten mit schubförmig remittierender multipler Sklerose Rituximab oder Placebo. Nach 48 Wochen fanden sie signifikant weniger Rezidive (20,3 versus 40,0 Prozent). Roche hat allerdings keine Zulassung für Rituximab bei MS beantragt. Ärzte setzen den Antikörper Off-Label, sprich jenseits des durch Arzneimittelbehörden zugelassen Gebrauchs, ein. Sie haften bei etwaigen unerwünschten Effekten. „Im Alltag ist das Rituximab sehr gut verträglich“, relativiert Prof. Bernhard Hemmer, Direktor der Klinik für Neurologie am TUM-Klinikum rechts der Isar.
Anfang Januar hat Roche die europaweite Zulassung für Ocrelizumab bei der schubförmigen (RMS) und primär progrediente MS erhalten. Basis waren die Studien OPERA I, OPERA II und ORATORIO. Sie zeigten, dass verschiedene Marker, aber auch die Krankheitsprogression, signifikant unterdrückt wurden. Arzneimittelrechtlich ist klar, dass Mediziner jetzt nicht mehr Rituximab verordnen dürfen. Schließlich gibt es nun ein zugelassenes Präparat, das die Krankenkassen erstatten dürfen. Außerdem ist Ocrelizumab ein monoklonaler humanisierter Antikörper. Das heißt, sein Proteinmuster ähnelt menschlichen Proteinen stärker als es bei Rituximab der Fall ist. Annette Langer-Gould, eine frühere Mitarbeiterin beim Roche-Tochterunternehmen Genentech, erklärte gegenüber „Kontraste“, sie kenne den Mehrwert des neuen Präparats nicht. „Die Wirkung ist meiner Ansicht nach sehr vergleichbar“, ergänzt auch Bernhard Hemmer mit Hinweis auf Rituximab.
Doch warum entwickelt Roche einen neuen Antikörper, anstatt seinen Blockbuster Rituximab weiter zu erforschen? Die Antwort liegt wie so oft im Patentrecht. Beim altbekannten Therapeutikum ist der Patentschutz gefallen, und die Konkurrenz hat bereits einen biosimilaren Antikörper auf den Markt gebracht. Mit dem neuen Medikament Ocrelizumab sollte Roche zu erwartende Umsatzeinbußen ausgleichen können. Nur direkte Vergleichsstudien („Head-to-Head“-Studie) beider Therapeutika könnten offene Fragen klären. Bleibt abzuwarten, welcher Preis am Ende der Nutzenbewertung laut Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) stehen wird.