Führt der befürchtete „Spermienrückgang“ zum Aussterben des „westlichen Mannes“? Die Anführungszeichen lassen es schon vermuten: Ganz so einfach ist es natürlich nicht.
In den letzten 50 Jahren gab es in den Reproduktionswissenschaften hitzige Debatten über globale Trends bei der menschlichen Spermienzahl. Im Jahr 2017 veröffentlichte der Epidemiologe Hagai Levine mit seinen Kollegen die bisher größte und methodisch rigoroseste Meta-Regressionsanalyse zu diesem Thema. Sie berichten in ihrer Arbeit, dass die durchschnittliche Gesamtspermienkonzentration bei Männern aus westlichen Ländern seit 1973 um 59,3 % gesunken sei – und der Abwärtstrend breche nicht ab. Die Ergebnisse fanden Widerhall in der wissenschaftlichen Gemeinschaft und sorgten für öffentliche Diskussionen über Männlichkeit und männliche Fruchtbarkeit in der modernen Welt.
Die Autoren einer Studie aus dem Harvard GenderSci Lab wollen jetzt etwas Ruhe in die Debatten bringen: Marion Boulicault, Sarah S. Richardson und ihre Kollegen bewerteten für ihre Veröffentlichung die Ergebnisse aus der viel zitierten Meta-Analyse von Levine und Kollegen neu. Hierbei schlagen die Forscher einen Weg zwischen Wissenschaft und Philosophie ein. Im Rahmen der Analyse bemerkten sie Schwächen und Ungereimtheiten bei der aufgestellten sogenannten Sperm Count Decline Hypothesis (SCD). Boulicault et al. schlagen einen alternativen Rahmen für die Bewertung der Spermienkonzentration vor: die Sperm Count Biovariability Hypothesis (SCB). Es sei angemessener, von einer Biovariabilität zu sprechen, statt von einer Abnahme der Spermienkonzentration von Männern.
Für die Interpretation von Trends bei der durchschnittlichen Spermienkonzentration und deren Beziehung zu Gesundheit und Fruchtbarkeit von Männern sei viel Hintergrundwissen entscheidend – etwa Wissen über die Beziehung zwischen der individuellen Spermienzahl und der auf Populationsebene sowie auch ökologische Faktoren. Boulicault et al. schlagen in ihrer Arbeit daher eine alternative Erklärung für die Entwicklung der Spermienanzahl in menschlichen Populationen vor: Die Spermienzahl variiere innerhalb eines weiten Bereiches und ein Großteil der Messungen könne als nicht-pathologisch und arttypisch angesehen werden. Spermienkonzentrationen oberhalb einer kritischen Schwelle könnten nicht unbedingt als Indikator für eine bessere Gesundheit oder eine höhere Fruchtbarkeit angesehen werden. Die Autoren bezeichnen dies als die Spermienzahl-Biovariabilitäts-Hypothese.
Die Autoren argumentieren: „Indem wir eine alternative Herangehensweise an die Daten vorschlagen, wollen wir zur aufkeimenden Diskussion zwischen Reproduktionswissenschaftlern und anderen Forschern und Klinikern über die Gesundheit von Männern beitragen.“ Einer der Gründe, eine alternative Interpretationen der Daten in Betracht zu ziehen, sei der, dass die Sperm Count Decline Hypothesis oft in rechtsradikalen Kreisen als Beleg für ein „Aussterben“ des „westlichen Mannes“ herangezogen würde.
Die Harvard-Forscher argumentieren, dass Behauptungen über jüngste und bevorstehende dramatische Rückgänge der menschlichen Spermienzahl auf einer Reihe von wissenschaftlich und ethisch problematischen Annahmen beruhen. Sie stellen klar:
Die Autoren kommen letztendlich zu dem Schluss, dass „Forscher darauf achten müssen, Hypothesen gegen Alternativen abzuwägen und die Sprache sowie den narrativen Rahmen berücksichtigen, in dem sie ihre Arbeit präsentieren.“ Die Biovariabilität biete einen komplexeren Rahmen als der „Spermienrückgang“, um diesen Erfordernissen gerecht zu werden.
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