Eine Impfeffektivität gegen die Delta-Variante von 50 bis 60 % und viele Durchbruchsinfektionen – das klingt enttäuschend. Doch bei genauem Hinsehen sind die Ergebnisse einer brandaktuellen englischen Studie ziemlich ermutigend.
Die vollständige Impfung gegen das Coronavirus ist zu 50 bis 60 % wirksam bei der Verhinderung von Delta-Infektionen, einschließlich asymptomatischer Fälle. Das sind die Ergebnisse einer aktuellen Preprint-Studie, die heute vom Imperial College in London veröffentlicht wurden. Die Ergebnisse sind ermutigender als sie auf den ersten Blick erscheinen.
Die Ergebnisse stammen aus der REACT-1-Prävalenzstudie, die eine der umfangreichsten Untersuchungen zu Coronainfektionen in England ist. Die Studie läuft schon seit April 2020 und liefert monatliche Momentaufnahmen der Pandemie, indem Forscher stichprobenartig Corona-Abstriche von Freiwilligen in ganz England testen.
Zwischen Juni und Juli sammelten sie Proben von fast 100.000 Menschen. Der Anteil an positiven PCR-Tests belief sich dabei auf 0,63 % und ist damit viermal so hoch wie im Untersuchungszeitraum von Mai bis Juni (0,15 %). Die Autoren erklären sich das mit der rasanten Ausbreitung der Delta-Variante, insbesondere in der jungen Bevölkerung. Im letzten Untersuchungszeitraum waren alle positiven Fälle der Delta-Variante zuzuschreiben, die die Alpha-Variante komplett verdrängt hat. In der vorherigen Testrunde machte Alpha immerhin noch knapp 20 % der untersuchten positiven Abstriche aus. Rund die Hälfte aller positiven PCR-Tests fand sich in den Altersgruppen zwischen 5 und 24 Jahren.
Der rasante Abwärtstrend der Corona-Fallzahlen in Großbritannien seit Mitte Juli (wir berichteten), ist in der Studie bislang nicht erfasst. Die Forscher sammelten ihre Proben in der aktuellen Untersuchung bis zum 12. Juli.
Die Wissenschaftler erfassten unter anderem auch den Impfstatus der Teilnehmer, unterschieden in ihrer Analyse aber nicht zwischen den einzelnen Impfstoffen. Bei ungeimpften Personen war die Prävalenz dreimal so hoch wie bei Personen, die beide Dosen eines Impfstoffs erhalten hatten (1,21 % vs. 0,40 %). Beides entspricht jedoch einem mehr als fünffachen Anstieg im Vergleich zur vorherigen Runde (0,24 % vs. 0,07 %).
Auf der Grundlage der Daten ermittelten die Forscher, dass vollständig geimpfte Personen in dieser Testrunde im Vergleich zu ungeimpften Personen ein um etwa 50 bis 60 % verringertes Infektionsrisiko aufwiesen, einschließlich asymptomatischer Infektionen. Im Detail zeigt sich, dass die Impfstoffe besser vor ausgeprägten Infektionen schützen: Wenn nur stark positive Ergebnisse berücksichtigt wurden – mit einem CT-Schwellenwert < 27 – dann lag die Impfstoff-Wirksamkeit bei 58 %. Flossen hingegen auch höhere CT-Werte in die Analyse ein, so schützten Impfungen zu 49 %.
„Die Ergebnisse sind in Verbindung mit anderen Studien, die die Wirkung von Coronavirus-Impfstoffen auf die Verringerung von Krankenhausaufenthalten und Todesfällen durch Covid-19 zeigen, ermutigend“, erklärt Dr. Tom Wingfield, von der Liverpool School of Tropical Medicine. „Sie erinnern uns aber auch daran, dass wir selbst bei einer extrem hohen Durchimpfungsrate im Herbst mit großer Wahrscheinlichkeit eine weitere Infektionswelle erleben werden.“
Die UK-Daten zeigen in jedem Fall, dass Durchbruchsinfektionen bei einer weitgehend durchgeimpften Bevölkerung unter Delta-Bedingungen keine große Ausnahme sind. Aber ist das eine Schreckensnachricht? Zwar ermittelten die Forscher im letzten Untersuchungszeitraum, dass 44 % der Infektionen bei vollständig geimpften Personen auftraten – allerdings scheint die Viruslast bei doppelt Geimpften etwas niedriger zu sein als bei Ungeimpften. Die Impfung schützt also nicht nur vor einem relevanten Anteil der Infektionen. Kommt es zu einer Infektion, scheint auch die Viruslast geringer zu sein.
Das passt zu den Ergebnissen eines anderen aktuellen Preprints aus Singapur, der sich mit Durchbruchsinfektionen beschäftigt hat. Darin fanden die Forscher bei der Diagnose einer Infektion mit der Delta-Variante zwar ähnlich hohe Viruslasten bei Geimpften und Ungeimpften. Allerdings nahm die Viruslast bei Geimpften auch schneller wieder ab. Über Sekundärinfektionen durch Übertragung von doppelt Geimpften lassen die britischen wie die Daten aus Singapur keine abschließenden Schlüsse zu. Dass infizierte Geimpfte eine bedeutende Quelle für Neuinfektionen sind, lässt sich daraus nicht ableiten.
Eines der Probleme ist, dass bisher unklar ist, was die Viruslast bei doppelt Geimpften bedeutet. Möglicherweise lässt sich vom CT-Wert, der bei einem PCR-Test ermittelt wird, weniger direkt auf die Infektiösität schließen als das bei Ungeimpften der Fall ist. Die PCR detektiert nämlich nicht nur vermehrungsfähige Viren. Es kann sich auch um bereits durch das Immunsystem inaktivierte Viren handeln.
„Die Delta-Variante ist bekanntermaßen hoch infektiös, und aus unseren und anderen Daten geht hervor, dass es bei vollständig geimpften Menschen zu Durchbruchsinfektionen kommt.“ kommentiert Steven Riley, Professor für Dynamik von Infektionskrankheiten am Imperial College die Ergebnisse. „Wir müssen besser verstehen, wie infektiös vollständig geimpfte Menschen sind, die sich infizieren, da dies helfen wird, die Situation in den kommenden Monaten besser vorherzusagen.“
Die Beobachtungen der Londoner Studie passen zu der (nicht neuen) Erkenntnis, dass die Corona-Impfungen vor allem vor schweren Verläufen, Hospitalisierungen und Tod schützen, aber keine sterile Immunität hervorrufen. Manche enttäuscht das, aber gemessen daran, dass vor einem Jahr noch gar nicht klar war, ob es überhaupt irgendeinen Impfstoff gegen COVID-19 geben wird, machen die Daten auch ein wenig Hoffnung. Die Impfungen werden kommende Corona-Wellen nicht verhindern können, aber die Wellen dürften etwas von ihrem Schrecken verlieren – unter der Voraussetzung, dass keine deutlich aggressiveren Varianten auftreten und dass möglichst viele durch Impfungen geschützt sind. Geimpfte Menschen infizieren sich deutlich seltener, und sollten sie es trotz Impfung doch tun, haben sie wahrscheinlich eine im Mittel geringere Viruslast, verbreiten das Virus wahrscheinlich weniger und haben selbst weniger Symptomen und nur ein minimales Risiko für einen Krankenhausaufenthalt.
Bildquelle: United Nations COVID-19 Response, unsplash