Komplett überforderte Assistenzärzte und Patienten, die teilweise falsch behandelt werden – so üble Folgen hat der Bereitschaftsdienst mit fachfremden Ärzten, sagen Kritiker. Was ist dran?
„Ich halte fachübergreifende Dienste für die schlechteste Lösung überhaupt, nach gar keiner Repräsentanz des Fachbereichs“ schreibt ein Chirurg auf DocCheck. Das gelte für alle Beteiligten – sowohl für Patienten, die teilweise falsch behandelt würden, als auch für Ärzte, die entsprechenden Vorwürfen ausgesetzt seien. Wie problematisch ist die Behandlung durch fachfremde Ärzte im Bereitschaftsdienst tatsächlich? Wir haben bei verschiedenen Experten nachgefragt.
Losgetreten wurde die Diskussion durch eine Pressemeldung der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (DGHNO-KHC). Sie warnt vor möglichen Gefahren fachübergreifender Bereitschaftsdienste. Und ist überzeugt: Aus ökonomischen Gründen werde eine deutliche Risikoerhöhung für den Patienten in Kauf genommen. Wir sprachen dazu mit Prof. Dr. Thomas Deitmer, Generalsekretär der DGHNO-KHC, über Details.
Dass fachübergreifende Bereitschaftsdienste zu deutlichen wirtschaftlichen und personalplanerischen Vorteilen führen, steht außer Frage. Statistiken dazu sucht man allerdings vergebens. „Eine Klinik, die sich zu solchen Maßnahmen entschließt, wird dies nicht verbreiten wollen“, sagt Deitmer. „Es gibt auch kein verpflichtendes Reporting, etwa aufgrund von Gesetzen oder Richtlinien.“ Hinweise dazu, dass das Modell nicht reibungslos läuft, bekommt der Generalsekretär dennoch: „Uns als Fachgesellschaft erreichen immer wieder ‚Hilferufe‘ von Chefärzten, die uns berichten, dass ihre Geschäftsführung entsprechenden Druck macht“, berichtet er.
„Ich habe von einem Haus gehört, bei dem die Augenklinik und die HNO-Klinik wechselweise Bereitschaftsdienste übernommen haben – und daraufhin von Rettungsdiensten nicht mehr angefahren wurde“, berichtet Deitmer. Er nennt Mandelnachblutungen bei pädiatrischen Patienten, die schon entlassen worden sind, als besonders kritische Situation. „Der Zeitraum, bis sie die erforderliche sachkundige Betreuung erhalten, ist oft lebensentscheidend. Dieses ergibt sich aus der Aufarbeitung von gutachterlichen Fällen.“ Es gäbe Berichte die bezeugen, dass Patienten in einigen Fällen mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht worden seien, dort aber keine sachkundige Hilfe bekommen hätten.
Deshalb fordert die DGHNO-KHC, Bereitschaftsdienste in HNO-Kliniken stets mit fachkundigen HNO-Ärzten zu besetzen. Probleme dürfte es in ähnlicher Weise auch in andere Disziplinen geben.
Bestätigung kommt aus anderen Fachrichtungen. Wie von Harald Schneider, der in der Chirurgie arbeitet. „Natürlich kann man nicht allen Standorten alle Fachbereiche über 24/7 präsent haben“, kommentiert Schneider auf DocCheck. „Jedoch kann die Doppelbelastung der Diensthabenden mit fachfremden Zusatzaufgaben auch nicht die Lösung dieser Probleme darstellen.“
Seine Einschätzung: „Wenn z.B. der einzige Internist im Haus im Dienst gleichzeitig den Notarzt stellt und somit teilweise außer Hauses ist, kann er naturgemäß nicht auf hausinterne Probleme reagieren.“
Auf Nachfrage von DocCheck gab auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) Rückmeldung zu der umstrittenen Thematik. „Die Inanspruchnahme des ärztlichen Bereitschaftsdienstes im Krankenhaus hängt maßgeblich von der Größe einer Abteilung und deren therapeutischem Spektrum ab“, so ein Sprecher. „HNO-Abteilungen sind dabei sehr unterschiedlich aufgestellt. Entsprechend unterschiedlich sind die (Anwesenheits-) Bereitschaftsdienste ausgestaltet.“
Für den Bereitschaftsdienst gelte der Facharztstandard, betont der DKG-Sprecher. Das heißt: Übernimmt ein Arzt den Bereitschaftsdienst in welchem Bereich auch immer, muss er über eine ausreichende Fachkompetenz verfügen, um die Notwendigkeit von Maßnahmen wie ein Facharzt zu erkennen und diese entweder selbst durchzuführen oder bis zum Eintreffen des rufbereiten Facharztes vorzubereiten. „Diese Fachkompetenz kann im Allgemeinen bei Weiterbildungsassistenten zum Facharzt für HNO-Heilkunde vorausgesetzt werden“, so der Sprecher. „Inwieweit auch Weiterbildungsassistenten oder Fachärzte anderer Fachrichtungen über die notwendige Kompetenz verfügen, muss im Einzelfall geprüft werden.“ Generell sei eine enge Rückkopplung mit dem fachärztlichen Hintergrunddienst erforderlich.
Nicht nur an medizinischen Fragen scheiden sich die Geister. Auch juristisch steckt viel Sprengstoff in der Angelegenheit. DocCheck fragte bei Sven Wilhelmy aus Köln nach. Der Rechtsanwalt ist Experte für Schmerzensgeld und Schadensersatz nach Behandlungsfehlern.
Zuvor war er bei einem Haftpflichtversicherer als Syndikusanwalt zuständig für die Regulierung von Arzthaftungs- und Haftpflichtfällen. Insofern kennt er beide Seiten der komplexen Thematik.
„Wir beobachten in der Kanzlei ohnehin, dass es immer wieder in Randzeiten zu Behandlungsfehlern kommt, sprich in der Nacht, am Wochenende oder rund um die Feiertage“, so Wilhelmy. „Ich sehe es extrem kritisch, wenn man dann noch fachübergreifend Ärzte einsetzt.“
Besonders negativ bewertet Wilhelmy die Situation, wenn unerfahrene Assistenzärzte im Hintergrunddienst fachübergreifend eingesetzt werden. „In meinen Augen führt das zu einer kompletten Überforderung“, lautet seine Einschätzung. „Dadurch erhöht sich die Gefahr, dass etwas schiefgeht, dramatisch.“
Man setze so junge Ärzte Risiken aus, die sie noch nicht stemmen könnten. Trotz guter Ausbildung und Vorbereitung, würde ihnen in einem fremden Fachgebiet trotzdem die Erfahrung eines Facharztes im jeweiligen Gebiet fehlen. „In meine Augen ist das ein untauglicher Versuch, das Problem des Personalmangels in den Griff zu bekommen.“
Leisten Ärzte fachübergreifende Bereitschaftsdienste und kommt es zu Behandlungsfehlern, müssen sie dafür geradestehen. Denn Maßstab bei der Bewertung der Behandlung ist der jeweilige geltende Facharztstandard. Hier droht sogar eine Haftungsverschärfung.
Wilhelmy spricht auch das Übernahmeverschulden an: Mediziner hätten schon bei der Übernahme einer Behandlung erkennen müssen, dass sie die Grenzen ihres eigenen Fachbereichs und/oder ihrer eigenen Fähigkeiten weit überschreiten. In diesen Fällen droht dann die sogenannte Beweislastumkehr. „Dann muss der Arzt beweisen, dass selbst ohne den Fehler der Krankheitsverlauf gleich gewesen wäre – und dieser Beweis ist kaum zu führen“, sagt der Experte.
Risiken drohen nicht nur den behandelnden Ärzten, sondern auch Kliniken, die fachübergreifende Bereitschaftsdienste eingeführt haben. Sie sind sich den Vorwurf eines Organisationsverschulden ausgesetzt. Denn neben der sachlichen Ausstattung der Klinik hat der Klinikbetreiber auch das notwendige und entsprechend qualifizierte Personal zu stellen.
Das alles könnte für Haftpflichversicherer mittelfristig teuer werden. Solche Fälle seien zwar gedeckt, so Wilhelmy, führten aber zu höheren Prämien.
Bleibt als Fazit: Ärzte tun weder sich noch ihren Patienten einen Gefallen, wenn sie fachübergreifende Bereitschaftsdienste leisten. Klink-Betreiber wiederum können Sparmaßnahmen schnell auf die Füße fallen. Letztlich werden angestellte Ärzte mit den Füßen abstimmen und sich aus Frust womöglich eine neue Wirkungsstätte suchen.
Bildquelle: Usman Yousaf, unsplash