Um die Kliniken im Herbst zu entlasten, müssen wir mehr impfen. Das fordern Intensivmediziner schon seit Wochen. Doch laut einer RKI-Umfrage sind möglicherweise viel mehr Deutsche geimpft als gedacht.
Schon seit längerem wird in Deutschland diskutiert, ob die 7-Tage-Inzidenz auch weiterhin als entscheidender Richtwert zur Einschätzung der Corona-Lage gelten soll. Im Beschluss der letzten Ministerpräsidentenkonferenz wird etwa die Zahl der Krankenhausaufnahmen wegen COVID-19 ebenfalls als „wichtige Größe zur Beurteilung des Infektionsgeschehens” bezeichnet. Doch trotz steigender Impfzahlen ist und bleibt die Inzidenz weiterhin ein wichtiger Richtwert – das betonen Bund und Länder in ihrem Beschluss. Das ergibt auch Sinn, denn die Inzidenz lässt nach wie vor Rückschlüsse auf die Belegung der Intensivbetten zu, wie eine aktuelle Veröffentlichung von Medizinern aus Köln, Berlin und Aachen zeigt.
Die drei Ärzte haben Modellierungen zur Einschätzung der anstehenden Belegung von Intensivbetten im kommenden Herbst und Winter in Abhängigkeit der Impfquoten angestellt. Dabei rechneten sie mit Inzidenzen von 0 bis 750 und verschiedenen Impfquoten. Die simulierten Impfquoten liegen z. B. bei 75 % bei den 35- bis 59-Jährigen und 85 % bei den über 60-Jährigen (pessimistisches Szenario). Für das optimistische Szenario nahmen die Mediziner eine Impfquote von 95 % der Altersgruppe Ü60 sowie 85 % der Gruppe 35–59 Jahre an.
In ihrem Bericht schreiben sie, dass sich die Fallzahlen auch weiterhin nicht unabhängig von der möglichen Belegung von Intensivbetten betrachten lassen – die Menge der belegten Intensivbetten verlaufe proportional zur Inzidenz. Der Faktor für das Verhältnis der beiden Kenngrößen liege allerdings höher als in vergangenen Wellen, sodass vergleichbare Intensivbettenbelegungen erst bei höherer Inzidenz erreicht würden. Je nach Impfquote erreicht er den 2- bis 6-fachen Wert.
Dennoch sei ihren Berechnungen zufolge ab 200 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche wieder „eine erhebliche Belastung der Intensivstationen“ mit mehr als 3.000 Intensiv-Patienten zeitgleich zu erwarten, sofern die Impfquote nicht noch deutlich gesteigert werde.
Mit der Delta-Variante werde erwartet, dass insbesondere vermehrt ungeimpfte Menschen ab einem Alter von 35 auf den Intensivstationen zu behandeln sind. Eine 10 %ige Steigerung der Impfquoten der über 35-Jährigen auf 85 % und der über 60-Jährigen auf 95 % führt zu einer erheblich verringerten Intensivbettenbelegung.
Derzeit liegt die Zahl der Menschen in Deutschland, die mindestens eine Impfdosis erhalten haben laut offiziellem RKI-Impfdashboard bei 62,8 % (Stand: 11.08.), vollständig geimpft sind 56,1 %. In der Gruppe der Ü60 sind bis dato knapp 80 % vollständig geimpft – das entspräche also dem pessimistischem Szenario, das die Mediziner um Karagiannidis in ihrem Bericht zeichnen.
Doch möglicherweise sind wir im Impfen besser, als wir bislang dachten. Darauf deuten zumindest die Ergebnisse eine Telefonumfrage des RKI hin, in der 1.005 Teilnehmer zu ihrer Impfbereitschaft befragt wurden. Anders als in den fünf Erhebungen zuvor weichen die Ergebnisse bei den Angaben zur Erstimpfung diesmal deutlich voneinander ab. In Bezug auf die Impfquoten zu vollständig Geimpften lag hingegen kein wesentlicher Unterschied vor.
Im Report liegt die Zahl der erstgeimpften 18- bis 59-Jährigen bei ganzen 79 % – im offiziellen Impfmonitoring wird diese Zahl mit nur 59 % angegeben. Diese Diskrepanz von 20 Prozentpunkten sorgt derzeit für Aufsehen. Doch woher kommt sie?
Die Umfrage-Daten lägen vermutlich zu hoch, heißt es im Covimo-Report. Die Daten des Impfmonitorings lägen dagegen zu niedrig: „Die Impfquote liegt voraussichtlich zwischen diesen Werten.“ Als anderer Erklärungsversuch wird etwa ein Selektionsbias genannt. Es könnte sein, dass eher impfwillige Personen befragt wurden als Menschen, die Impfungen ablehnen. Doch das hätte sich auch schon in den vorherigen Berichten widerspiegeln müssen.
Plausibler erscheint die Erklärung, dass die Impfungen des Herstellers Johnson & Johnson – die nur einmal verabreicht werden muss – von Ärzten als Zweitimpfung in den Datensatz eingespeist wurde und nicht etwa als Erstimpfung. Auch die Betriebsärzte könnten eine Rolle spielen, da sie laut Report nur zur Hälfte über die zur Datenerfassung notwendige Webanwendung verfügen. Doch hier geht es nur um knapp 4 Prozentpunkte mehr.
Woher der Unterschied tatsächlich kommt, bleibt unklar. Intensivmediziner fordern deswegen jetzt eine unabhängige, repräsentative Bevölkerungsumfrage zum Stand des Impfens in Deutschland. Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), kommentiert: „Das Impfen ist der entscheidende Erfolgsfaktor der Pandemie. Wir müssen alles dafür tun, das Vertrauen in die Impfkampagne zu stärken.“
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