Eine immer älter werdende Gesellschaft benötigt eine immer umfassendere ärztliche Versorgung. Ärzte gibt es genug, doch viele entscheiden sich für einen Teilzeit-Job oder eine nicht-klinische Tätigkeit. Die Lösung: Mehr Studienplätze. Doch seit 25 Jahren stagniert deren Zahl.
Hart erkämpft und doch zunächst scheinbar nutzlos: Viele frisch gebackene Abiturienten mit dem Berufswunsch „Arzt“ sehen sich vor einem schier unlösbaren Problem. Wenn die Note nicht gerade eine „Eins“ vor dem Komma aufweist, ist der schnelle Einstieg in die ärztliche Ausbildung erst einmal verwährt. Etwa fünfmal so viele Bewerber wie es Studienplätze gibt, drängen auf den „Markt“. Konkrete Zahlen nennt hier „Hochschulstart“. 2014 bewarben sich mehr als 44.000 Abiturienten für einen Medizin-Studienplatz. Zur Verfügung standen aber lediglich 9.000 Plätze an insgesamt 36 medizinischen Fakultäten bundesweit. In diesem Jahr wird es für die Studierwilligen kaum leichter. Der Numerus clausus liegt laut Hochschulstart je nach Bundesland bei 1,0 bis 1,4.
Das Problem der mangelnden Studienplätze erscheint zunächst einmal paradox: Es gab noch nie so viele Ärzte in Deutschland wie in diesen Jahren. Die in regelmäßigen Abständen von der Bundesärztekammer (BÄK) erhobene Ärztestatistik beziffert die Zahl der aktiven Mediziner in Deutschland 2013 auf insgesamt 357.252. Das sind über 50.000 mehr als noch zu Beginn des neuen Jahrhunderts. Aus dieser Zahl lässt sich rekonstruieren, dass die Abwanderung deutscher Medizinabsolventen ins Ausland ebenfalls überschaubar ist und keinesfalls den vielfach postulierten Ärztemangel erklärt. Auch ist die Rate der Studienabbrecher im Fach Medizin seit jeher niedrig. Eine Statistik des Hochschul-Informations-Systems aus dem Jahr 2006 beziffert deren Anteil auf lediglich fünf Prozent. Bis heute hat sich hieran kaum etwas geändert. Woher kommt also der angebliche Ärztemangel, verbunden mit dem Ruf nach mehr Studienplätzen? Zunächst einmal ist da das breite Beschäftigungsspektrum von examinierten Medizinern: Auf sie warten weit mehr Arbeitsmöglichkeiten als die reine Patientenversorgung: Forschung, Wirtschaft, Journalismus – nur einige Beispiele für sogenannte nicht-klinische Tätigkeitsbereiche. Zudem existieren immer mehr Teilzeitstellen für Ärzte, früher wohl undenkbar. Bereits im Jahr 2005 arbeiteten rund 42.000 Mediziner in Teilzeit, sechs Jahre später, 2011, waren es schon 54.000. Ein Grund hierfür ist der stark angestiegene Frauenanteil in der Ärzteschaft. Es gilt, Familie und Beruf bestmöglich zu vereinen. Eine an sich erfreuliche Entwicklung, die aber zum vermeintlichen Ärztemangel beiträgt. Denn: Nicht die Anzahl der Ärzte ist zu gering, vielmehr erbringt diese nicht genügend Arbeitsstunden. Verschärfend kommt hinzu, dass sich das Durchschnittsalter der Mediziner deutlich erhöht hat: In den letzten Jahren stieg dieses von 46,7 auf 53,1 Jahre, so die BÄK. Die Folge: Viele praktizierende Ärzte werden bald in den wohlverdienten Ruhestand gehen.
Die gesamte Problematik ließe sich durch eine deutliche Aufstockung an Studienplätzen lösen. Der Trend zum „Teilzeit-Arzt“ ist durchaus positiv zu sehen, der Beruf gewinnt durch diese Option weiter an Attraktivität. Allen Interessenten einen sofortigen Studienplatz zu garantieren, wird nicht möglich sein. Eine deutliche Kapazitätssteigerung ist jedoch unverzichtbar, will man eine bedarfsgerechte ärztliche Versorgung in der Bundesrepublik gewährleisten. Dr. Andreas Botzlar, 2. Vorsitzender des Marburger Bundes, bringt es wie folgt auf den Punkt: „Wir brauchen mehr Studienplätze, um ausreichend medizinischen Nachwuchs auszubilden. Mit den heutigen Kapazitäten, die weitgehend denen vor 25 Jahren entsprechen, wird sich das Niveau der ärztlichen Versorgung nicht aufrechterhalten lassen, wenn in zehn Jahren die erste Ruhestandswelle auf uns zukommt“. Hier sind Bund und Länder gefragt, die mit dem „Masterplan Medizinstudium 2020“ offensichtlich den Zahn der Zeit erkannt haben.
Am Anfang steht hier die Frage nach dem Ausbau neuer Infrastrukturen: Die bestehenden Fakultäten müssen ausgebaut werden. Auch die Schaffung neuer Standorte darf kein Tabuthema sein. Neben dem zahlenmäßigen Ausbau der Studienplätze sollte auch das Zulassungsverfahren gründlich reformiert werden. Die Abiturnote mag einen gewissen Stellenwert aufweisen – ein Zusammenhang zwischen einer Einser-Note und den Erfolgsaussichten für das Medizinstudium gibt es aber nicht. Beliebt, wenngleich sehr belastend, ist der Medizinertest – bereits heute von 18 Fakultäten angewandt. Hier werden Studienplatz-Anwärter in einem vielseitigen Fragebogen auf ihre kognitiven und psychischen Fähigkeiten geprüft. Durch solche Auswahlverfahren lässt sich die Bedeutung der Abiturnote verringern.
Auch die bereits bestehenden Studienplätze müssen besser genutzt werden – will heißen, dass den ausbildenden Fakultäten und Kliniken mehr Gelder zur Verfügung gestellt werden müssen. Nur so kann auch langfristig garantiert werden, dass in Deutschland ausgebildete Ärzte weiterhin global sehr gefragt sein werden. Vor allem aber gilt es, um die Zahl der Studienplätze merklich anheben zu können, öffentliche Gelder hierfür großzügiger einzusetzen. „Die ärztliche Ausbildung ist kein Punkt, an dem gespart werden darf“, so BÄK-Präsident Prof. Dr. med. Frank Ulrich Montgomery gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt. Nur die Kombination aus einem Zuwachs an Studienplätzen und einer Veränderung der Zulassungsbedingungen können Deutschland vor einem wirklichen Ärztemangel bewahren. Besonders kritisch: Viele Fakultäten wollen die ohnehin schon geringen Kapazitäten nicht voll ausschöpfen. Sie melden der Studienplatzvergabestelle weniger Plätze als sie anhand ihres Potenzials an Lehrkräften und Räumlichkeiten zur Verfügung stellen könnten. Genau hier setzen Studienplatzklagen an. Studienplatzklagen sind zudem längst kein Geheimtipp mehr: Die Deutsche Hochschulstiftung motiviert Studierwillige mit zu „schlechter Note“ zu diesem, allerdings nicht billigen Weg. „Unser Land kann es sich schlicht nicht leisten, junge Menschen zum Beispiel sechs Jahre auf einen Medizinstudienplatz warten zu lassen, während Krankenhäuser händeringend Ärzte suchen“, heißt es auf deren Internetseite.
Abiturienten ohne Spitzennote aber mit Berufswunsch Arzt haben durchaus Möglichkeiten, diese Hürde zu umgehen. Aber zu welchem Preis? Studienplatzklagen sind mitunter sehr teuer. Und die Vorklinik fernab der Heimat im weitestgehend NC-freien Ungarn zu absolvieren, kann nicht im Sinne des Erfinders sein. Diese Lösung schlägt zudem mit bis zu 6.900 Euro pro Semester zu Buche, ohne Lernmittel- und Lebenskosten versteht sich. Es entsteht unweigerlich der Eindruck, das Medizinstudium stehe nur Top-Schülern und Zöglingen reicher Eltern offen. In Deutschland herrscht ein Recht auf freie Berufswahl. Dies kann aber in einem so essentiellen Beruf wie dem des Mediziners derzeit nicht gewährleistet werden. Selbstverständlich kann nicht jedem Abiturienten ein sofortiger Studienplatz zugewiesen werden, aber genau das sollte letztlich das Ziel von Politik und auch Wirtschaft sein. Denn schlussendlich profitiert besonders sie von gut ausgebildetem Personal. Die Kapazitäten der medizinischen Fakultäten müssen ausgebaut werden, daran geht kein Weg vorbei. Aber viele Universitäten sind nicht in der Position, den Zeigefinger zu erheben. Durch die Verschleierung potentieller Studienplätze sind sie nicht Opfer, sondern Mitverursacher des Problems.