Anders als gedacht, spielt für das Sprechen vor allem die linke Hirnhälfte eine Rolle. Elektroden auf der Zungenmuskulatur machten es möglich, Änderungen in der lokalen Hirnerregbarkeit zu verfolgen. Je schwerer das Stottern, desto schlechter funktionierte die Bewegungsvorbereitung.
Bekannt ist: Die Bewegung des rechten Armes und des rechten Beines wird von der gegenüberliegenden linken Gehirnhälfte gesteuert. Dagegen sind die mittelliniennahe Sprechorgane wie Zunge, Lippen, Kiefer und Stimmlippen beidseitig gesteuert: Beide Hirnhälften innervieren beide Muskeln beider Seiten. Man hätte also annehmen können, dass auch die Sprechvorbereitung in beiden Hirnhälften gesteuert wird. Dr. Nicole Neef und Prof. Dr. Martin Sommer, beide aus der Klinik für Klinische Neurophysiologie der Universitätsmedizin Göttingen, haben zusammen mit Dr. Andreas Neef, Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen, die Frage erstmals geklärt. Sie verwendeten dafür eine Technik mit hoher zeitlicher Auflösung: Sie stimulierten mit kurzen elektromagnetischen Impulsen während des Sprechens die Bereiche des Gehirns, die die Zunge steuern. Elektroden auf der Zungenmuskulatur machten es erstmals möglich, Änderungen in der lokalen Hirnerregbarkeit während des Sprechvorganges zu verfolgen. Bei der Kontrollgruppe nicht stotternder Erwachsener zeigte vor allem die linke Hirnhälfte während des Sprechvorgangs eine dynamische Regulierung der Erregbarkeit, die die Zungenbewegung steuert. Diese Modulation fehlt bei Stotternden, abhängig von der Stotterschwere. Je schwerer die untersuchten Probanden gestottert haben, desto schlechter funktionierte die Bewegungsvorbereitung im linksseitigen motorischen Areals des Gehirns.
Die Untersuchungen der Göttinger Forscher zeigen: Sprechvorgänge werden überwiegend von der linken Hirnhälfte aus gesteuert. Dies war bislang zwar für die Sprachverarbeitung geklärt, für die Sprechvorbereitung aber nicht klar. Diese Ergebnisse integrieren strukturelle und neurophysiologische Befunde in ein plausibles Modell der Sprech-Pathophysiologie für Stottern, das in der Kindheit entstanden ist. Die Ergebnisse zeigen, an welcher Stelle des Gehirns bei Stotternden die Ausführung des Sprechvorgangs gestört ist. „Die Wechselbeziehung zum Ausmaß des Stotterns legt darüber hinaus eine funktionelle Bedeutung des Befundes nahe“, sagt Prof. Dr. Martin Sommer. Der linke Motorkortex und die seine Erregbarkeit beeinflussenden, verbundenen Hirnbereiche können nun gezielt untersucht und beeinflusst werden, um flüssiges Sprechen zu erleichtern. Originalpublikation: Speech dynamics are coded in the left motor cortex in fluent speakers but not in adults who stutter N. E. Neef et al.; Brain, doi:10.1093/brain/awu390; 2015