Die wenigsten kennen 116 117, die Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes. Das ist einer der Gründe dafür, dass überfüllte Notfallambulanzen hierzulande Dauerzustand sind. Ohne eine Reform der Notfallversorgung sollte die Große Koalition nicht antreten, fordert ein Mediziner.
„Rund ein Drittel aller Patienten, die in den Notfallambulanzen landen, gehören da gar nicht hin“, berichtet Lothar Kratz von der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen. Er sieht aber nicht nur Probleme durch lange Wartezeiten. „Die Behandlung kann oft nicht über die Versicherungen abgerechnet werden, da der Patient sich eigentlich bei einem niedergelassenen Arzt oder in einer Notfallpraxis hätte vorstellen müssen“. Nicht nur in Nordrhein-Westfalen platzen Notfalleinrichtungen aus allen Nähten.
Den ärztlichen Bereitschaftsdienst kennen vergleichsweise wenige Versicherte © TK Das zeigen Ergebnisse einer repräsentativen, bundesweiten Studie der Techniker Krankenkasse (TK) mit mehr als 1.000 Versicherten. Im untersuchten Zeitraum von drei Jahren haben 37 Prozent mindestens einmal die Notaufnahme ihres Klinikums aufgesucht. Deutlich seltener war der Kontakt zu ambulanten Notfallpraxen (22 Prozent). Den Notruf 112 wählten 13 Prozent, während 11 Prozent über die Nummer 116 117 Kontakt zum Bereitschaftsdienst aufnahmen. Drastische Unterschiede im Bekanntheitsgrad sind eine mögliche Erklärung. Während Notaufnahmen (98 Prozent) und den Notruf 112 (97 Prozent) quasi allen Befragten ein Begriff waren, sah es bei Notfallpraxen (85 Prozent) oder gar bei der 116 117 (62 Prozent) deutlich schlechter aus. Noch ein Blick auf die medizinische Situation bei den Befragten. Ärzte stuften in der Notaufnahme 61 Prozent als dringlich ein, während sie bei 39 Prozent Entwarnung gaben. Überraschenderweise nutzen gerade jüngere Patienten ihre Notaufnahme intensiv. Bei den 18- bis 39-Jährigen waren es 44 Prozent der Studienteilnehmer, bei den 40- bis 59-Jährigen 35 Prozent und bei den 60- bis 70-Jährigen 24 Prozent. Dieses Chaos führen Experten vor allem auf strukturelle Schwächen im deutschen Gesundheitswesen zurück.
TK-Gesundheitsökonom Professor Dr. Volker Möws sieht das grundlegende Problem in der sektoralen Trennung verschiedener Akteure. „Die Zuständigkeiten sind aus Patientensicht meist unklar, die Notfallversorgung bei niedergelassenen Ärzten ist lückenhaft und oft unattraktiv organisiert“, moniert er in seinem Blog. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Professor Dr. Marion Haubitz, Direktorin der Medizinischen Klink III am Klinikum Fulda. Im Rahmen eines Vortrags fasste sie alle zentralen Schwachstellen zusammen. Derzeit gebe es drei getrennte Bereiche, nämlich den kassenärztlichen Bereitschaftsdienst, den Rettungsdienst sowie Notaufnahmen der Kliniken. Sie spricht von einer „Kette finanzieller Fehlanreize“: Leerfahrten des Rettungswagens, weil die medizinische Situation doch harmloser ist, zahlen gesetzlich Versicherte selbst. Das Bundessozialgericht sieht hier keine Notwendigkeit, dass GKVen die Kosten zu übernehmen. Und nicht zu vergessen: Für Kliniken sind stationäre Aufnahmen attraktiver als ambulante Behandlungen. Solche Diskrepanzen zeigen sich ebenfalls bei einer Haubitz’ Auswertung. Verglichen mit 2009 (100 Prozent) kam der Bereitschaftsdienst in 2015 auf 85 Prozent Auslastung, bei Notfallambulanzen waren es 143 Prozent und bei Rettungsfahrten ohne Krankentransport 134 Prozent. Anhand von Daten aus zwei Berliner Notaufnahmen mit mehr als 2.000 Patienten bestätigt Haubitz auch die TK-Studie. Von allen Befragten hatten 89 Prozent keinen Kontakt zum ambulanten Bereitschaftsdienst. Als Gründe gaben sie an, von dessen Existenz nichts zu wissen (55 Prozent) oder lange Wartezeiten abzulehnen (34 Prozent).
Ein Weg aus der Krise der Notfallaufnahme könnten Portalpraxen bieten: Sie werden gemeinsam von niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern betrieben. Hier wird je nach Schwere des Falls entschieden, ob der Bereitschaftsarzt oder die Notfallambulanz des Krankenhauses weiterhilft. Der Vorteil: für die Patienten gibt es nur eine Anlaufstelle.
Alle Experten sind sich einig, dass die Zeit reif ist für Reformen, und zwar nicht nur in Deutschland. Viele EU-Nationen plagen sich mit steigenden Zahlen vermeintlicher Notfälle in Krankenhäusern. Dass es durchaus Lösungen gibt, zeigt Haubitz am Beispiel der Niederlande. Kollegen arbeiten mit Gatekeeper-Modellen, um Patienten der richtigen Versorgungsform zuzuführen. Vor Ort gibt es starke hausärztliche Zusammenschlüsse. Sie haben im Bereitschaftsdienst und in der Telefontriage Zugriff auf digitale Patientenakten. Krankenhäuser verzichten freiwillig auf ambulante „Notfälle“ – die wirtschaftlichen Anreize fehlen. Auch in Dänemark existiert eine stark zentrierte Notfallversorgung. Nur per Rettungswagen oder per telefonischem Erstkontakt gelangen Patienten in die Notaufnahme. In Deutschland waren Experten ebenfalls fleißig. Das AQUA – Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen – hat ausgehend vom Status quo Handlungsempfehlungen erarbeitet:
Solche Ideen stoßen nicht nur auf Wohlwollen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung sprach bereits Ende 2015, als Pläne der früheren Bundesregierung bekannt wurden, von „massiven Fehlanreizen“. Die Einrichtung einer Portalpraxis solle erst nach einer positiven Bedarfsprüfung erfolgen, also nur, wenn diese wirklich benötigt werde, heißt es weiter. Dr. Hans-Joachim Helming, ehemaliger Vorsitzender der KV Brandenburg, präzisierte: „Vor jedes Krankenhaus ohne Bedarfsprüfung eine Portalpraxis zu setzen, ist mit Blick auf die medizinische Versorgung und ebenso aus wirtschaftlicher Sicht vollkommener Unsinn. Bedarfs- und sachgerechte Versorgungsstrukturen lassen sich nur nach sorgfältiger Prüfung aufbauen. Das unnötig aufgewendete Geld wird sonst in der ambulanten ärztlichen Versorgung fehlen und eine Patientenverschiebung aus der normalen vertragsärztlichen Behandlung auf die Notfallebene bewirken.“
Portalpraxen sind nicht der Weisheit letzter Schluss. Der Allgemeinarzt und Wissenschaftler Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach setzt als Ergänzung auf integrierte Notfallzentren (INZ), sprich Leitstellen, die über eine zentrale Telefonnummer zu erreichen wären. „Dort müssen geschultes Fachpersonal und Ärzte helfen zu entscheiden, wo der Patient am besten versorgt werden kann: in einer Praxis, vom Rettungsdienst oder in einem Notfallzentrum“, so Gerlach. „Muss der Patient wirklich ins Krankenhaus, könnte diese Leitstelle dort sogar einen Termin vermitteln und so die Wartezeit verkürzen.“ Zu Beginn sollte der Patient immer die integrierte Leitstelle oder die zentrale Anlaufstelle kontaktieren. Experten entscheiden dann je nach Dringlichkeit über weitere Maßnahmen. © Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. INZ könnten entweder eigenständig oder als Teil bestehender Kliniken aufgebaut werden. Als gemeinsame Träger sieht Gerlach Kassenärztliche Vereinigungen und Kliniken. Da Gerlach Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen ist, werden Politiker aller Couleur seine Empfehlungen nicht einfach vom Tisch wischen. Seine Botschaft in Richtung einer möglichen Regierung: „Ohne einen Reformplan für die Notfallversorgung sollte die Große Koalition nicht antreten.“
An Ideen aus der Ärzteschaft mangelt es nicht. Jetzt ist dei Politik am Zuge. In Berlin haben sich Union und Sozialdemokraten vor wenigen Tagen auf ein Eckpunktepapier zu wichtigen Gesundheitsthemen verständigt. Inhaltlich bleibt das Dokument vage. So ist beispielsweise von einer Verbesserung der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit die Rede. Bei der Notfallversorgung planen Gesundheitspolitiker einen gemeinsamen Sicherstellungsauftrag von Kassenärztlichen Vereinigungen und Landeskrankenhausgesellschaften.