Die Corona-Pandemie hat für ein Umdenken bezüglich der Übertragung von Atemwegsviren gesorgt. Was Forscher inzwischen über Tröpfchen und Aerosole wissen, lest ihr in unserem großen Fakten-Check.
Lange Zeit wurde angenommen, dass die Übertragung von respiratorischen Viren hauptsächlich über Tröpfchen erfolgt – die COVID-19-Pandemie hat uns nun eines Besseren belehrt. Die Transmission durch infektiöse Aerosole über die Luft ist schwerwiegender als bisher bekannt. Dabei trifft diese Problematik nicht nur auf SARS-CoV-2 zu, sondern auch auf andere Atemwegsviren wie das MERS-CoV-Virus, Masern-Virus, Influenza-Viren, Rhinoviren und das zur Zeit asaisonal auftretende Respiratory-Syncytial-Virus (RSV) über das wir kürzlich berichteten. Das renommierte Fachmagazin Science veröffentlichte nun ein Review, das den aktuellen Wissensstand zu Aerosolen wiedergibt.
„Einige Viren, die über Aerosolpartikel übertragen werden, können gefährlich sein und zu vielen tausend Toten pro Jahr führen. SARS-CoV-2, MERS, Influenzaviren sind typische Beispiele“, erklärt uns Prof. Christian Kähler, Institutsleiter des Instituts für Strömungsmechanik und Aerodynamik der Universität der Bundeswehr München. „Eine Abschätzung der Gefahr ist schwierig, aber es ist schon fraglich, warum sich die Menschen im Allgemeinen so wenig vor Infektionen schützen. Es gibt immerhin ca. 25.000 Tote pro Jahr in Deutschland, die bei schweren Grippewellen sterben. Das müsste nicht sein. Und an SARS-CoV-2 sind nochmal deutlich mehr verstorben.“
Die Tröpfchen, die die epidemiologische Forschung zur Transmission bisher dominierten, werden beim Niesen oder Husten produziert und lagern sich meist auf den Schleimhäuten der Augen, Nase oder des Mundes ab. Dabei wird angenommen, dass eine Tröpfcheninfektion in einem Radius von 1 bis 2 m ausgehend von der infizierten Person erfolgen kann. Sie fallen auch aufgrund ihrer Größe (> 100 µm) schnell zu Boden und verweilen nicht lange in der Luft.
Mittlerweile ist jedoch bekannt, dass viele Pathogene über kleine respiratorische Aerosole übertragen werden, die durch die Luft über Distanzen von mehr als 2 m verbreitet werden können. Die Übertragung selbst erfolgt dann über die inhalierten infektiösen Aerosole. Definiert wurden sie bisher als „Tröpfchenkerne“, die kleiner als 5 µm sind. Diese kleinen Partikel sind flüssig, fest oder halbfest und werden bei allermöglichen respiratorischen Aktivitäten (Atmen, Reden, Husten, Singen) produziert. Mittlerweile hat sich jedoch gezeigt, dass der Größenunterschied zwischen Tröpfchen und Aerosolpartikeln auf 100 µm geupdatet werden sollte. Partikel der Größe 100 µm können mehr als 5 Sekunden in der entlassenen Luft verweilen, schreiben die Autoren des Reviews.
Die verbreitete Definition geht hier in der Medizin und Wissenschaft jedoch auseinander, erklärt Kähler. „Aerosolpartikel sind gemäß DIN CEN/TS 16976:2016-11 feste oder flüssige Teilchen mit einem Durchmesser von 0.001 μm bis 100 μm, die sich zusammen mit der Luftströmung bewegen und weder ballistisch fliegen noch in ruhender Luft schnell absinken“, so Kähler. „Im Gegensatz zu dieser physikalisch motivierten Einteilung werden in der Medizin heutzutage Aerosolpartikel größer 5 μm meist als Tröpfchen bezeichnet und es wird in dem Fachgebiet gelehrt, dass diese Tröpfchen schnell zu Boden sinken.“
Die uneinheitliche Verwendung der Begriffe führte nicht nur zu Missverständnissen zwischen den Fachdisziplinen, sondern auch zu unterschiedlichen Empfehlungen zu Schutzmaßnahmen zu Beginn der COVID-19-Pandemie. Fälschlicherweise nahm man an, dass Partikel größer als 5 µm schneller zu Boden sinken und Schmierinfektionen der wesentliche Übertragungsweg sind, erläutert Kähler.
Aerosole lassen sich, je nachdem wo und wodurch sie produziert werden, in alveolare, bronchioläre, bronchiale, larnygeale und orale Aerosole einteilen. Die Größe der Aerosole ist dabei die stärkste Eigenschaft, da sie nicht nur die Aerodynamik beeinflusst, sondern auch die Ablagerungsdynamik sowie die Infektionsstelle. Dabei gilt: Je kleiner die Modalgröße der Aerosole, desto tiefer ist der Ursprung in den Atemwegen.
Aerosolpartikel sind häufig kleiner als 5 µm, wobei bei den meisten respiratorischen Aktivitäten Partikelgrößen von unter 1 µm entlassen werden. Die normale Atmung entlässt etwa 7.200 Aerosolpartikel pro Liter ausgeatmeter Luft. Jedoch ist die Anzahl virusbeladener Aerosole individuell unterschiedlich, da Atmung, Krankheitsstadium, Alter, BMI und bereits bestehende Krankheiten einen großen Einfluss haben. So produzieren Kinder generell weniger virusbeladene Aerosole als Erwachsene, da sich ihre Lungen noch weiterentwickeln und sie weniger Bronchiolen und Alveolen haben, in denen sich Aerosole formen können. Kähler betont jedoch, dass es nicht ganz klar sei, ob mehr Aerosolpartikel auch mehr Viren übertragen. Es hänge auch davon ab, in welchem Körperteil sich die Infektion festgesetzt hat (Lunge, Hals, Rachen, Mund, Nase, etc.).
Auch wenn beim Husten mehr infektiöse Aerosole in einer kurzen Zeit produziert werden, tragen auch die normale Atmung sowie das Reden stark zur Verbreitung bei – insbesondere in Individuen ohne klinische Symptome.
Der Transport von Aerosolen durch die Luft wird von physikalischen Eigenschaften sowie von Umweltfaktoren und dem Luftstrom beeinflusst. Auch die Lebenspanne von aktiven Viren in der Luft hängt vom physischen Transport und der biologischen Inaktivierung durch Umweltfaktoren ab. Die Verweildauer ist dabei von der terminalen Sinkungsgeschwindigkeit abhängig, die sich aus Gravitationskraft und Strömungswiderstand ergibt.
Diese Persistenz des Virus im Aerosol wird unter anderem durch 4 wesentliche Faktoren beeinflusst:
„Wichtig ist die Luftströmung, denn die Viren werden über die Strömung der Luft übertragen. Dabei spielt auch die turbulente Luftbewegung eine große Rolle, da sie für eine ungerichtete Ausbreitung der Viren sorgt und somit für eine Abnahme der Virenlast in der Raumluft“, hebt Kähler hervor.
Er erläutert, dass partikelfiltrierende Halbmasken (FFP2/3) zum kurzzeitigen Schutz vor direkten und indirekten Infektionen beim Einkaufen oder im öffentlichen Nahverkehr verwendet werden sollten. OP-Masken verhindern zwar, dass ausgeatmete Aerosolwolken in Blickrichtung behindert werden, aber Partikel dennoch seitlich austreten können. Sie bieten daher keinen ernsthaften Selbst- und Fremdschutz vor SARS-CoV-2-Infektionen. Zum längeren Schutz bei der Arbeit bieten Systeme zur Luftfiltration und Durchlüftung einen guten Schutz vor indirekten Infektionen.
Sobald die infektiösen Aerosole eingeatmet werden, lagern sie sich im respiratorischen Trakt des Wirts ab. Die Größe der Aerosolpartikel sowie anatomische, physiologische und aerodynamische Faktoren beeinflussen dabei Ablagerungsort und -muster. Die tatsächliche Infektion wird dann am Ablagerungsort ausgelöst, sofern das Virus infektiös bleibt und entsprechende Rezeptoren antrifft. Inhaliert werden Aerosolpartikel von bis zu 100 µm.
Weitere physikalische Schlüsselmechanismen beeinflussen, wo und wie sich die Partikel in den verschiedenen Bereichen der Atemwege ablagern. Aufgrund des hygroskopischen Wachstums in einem gesättigten Atemweg können eingeatmete Aerosole noch größer werden. Aerosolpartikel (> 5 µm) lagern sich primär im nasopharyngealen Bereich ab (87 bis 95 %), wohingegen sich kleinere Partikel meist in tieferen Bereichen, wie der Lunge oder dem alveolaren Lumen, ablagern.
Neben der Rezeptorverteilung entlang des respiratorischen Trakts und der Virus-Wirt-Interaktion hat der Zustand der Lunge ebenfalls einen Einfluss auf die Infektionseffizienz. Individuen, die an COPD leiden, weisen oft höhere Virusablagerungen auf als gesunde Individuen. Bronchiale Ablagerungen sind häufig höher bei Patienten mit Asthma oder chronischer Bronchitis.
Die Forscher liefern ganz schön viel physikochemischen Input, doch was schließen sie daraus? Sie heben mit ihren Erkenntnissen besonders die Bedeutung von Aerosolen in der Luft bei der Übertragung von Atemwegsviren hervor. So wurde diese lange Zeit unterschätzt, da Hypothesen dazu bereits Anfang des 20. Jahrhunderts abgelehnt wurden und schnell auf Tröpfcheninfektionen oder Übertragungen durch direkten Kontakt verwiesen wurde. Charles V. Chapin, ein Wegbereiter der Forschung in öffentlicher Gesundheit sowie der erste Präsident der American Epidemiological Society habe dazu wesentlich beigetragen. Kähler verweist hingegen auf die wissenschaftliche und medizinische Diskrepanz in der Definition.
Das bisher wenig aufgeklärte Verständnis solcher Übertragungsprozesse ist nicht nur in der COVID-19-Pandemie von Bedeutung, sondern generell bei saisonal auftretenden Atemwegsviren oder respiratorischen Erkrankungen, erklären die Autoren. Diese Erkenntnisse sind auch wichtig beim Umgang mit zukünftigen Pandemien und auch bei der Vorbeugung, indem mit entsprechenden Maßnahmen reagiert werden kann. Es gibt Unterschiede zwischen Indoor- und Outdoor-Transmissionen sowie zwischen Aerosol- und Tröpfcheninfektionen. Dies spiele auch eine große Rolle bei Superspreading-Events, die häufig in Innenräumen erfolgten, heißt es im Artikel. Unterstützt werden diese Events dann von schlechter Durchlüftung und Luftfiltration. Diese wiederum beeinflussen nicht die tröpfchenvermittelte Übertragung, sondern die von Aerosolen. Daher betonen die Forscher nochmal die Bedeutung entsprechender Systeme (HEPA-Filter, Fensterlüftung, raumlufttechnische Anlagen etc.).
Maßnahmen zur Prävention werden meist dann getroffen, wenn ein direkter Nachweis zur ausgehenden Infektiosität erfolgt, sodass diese öffentlich anerkannt werden. Daher gehe noch immer eine Gefahr von infektiösen Aerosolen aus, da das tatsächliche Risiko zur Infektiosität noch nicht ganz erfasst ist. Solange seien auch Menschen einem potenziellen Risiko für über Aerosolpartikel übertragbare Krankheitserreger ausgesetzt, da dementsprechende Maßnahmen noch nicht überall in der öffentlichen Gesundheit angekommen sind, schreiben die Autoren. In diesem Zusammenhang beleuchten sie die Überschneidung von Maßnahmen gegen Tröpfchen- und Aerosolinfektionen.
Die Forscher erklären, dass es wichtig sei, alle möglichen Wege der Transmission anzuerkennen, um Risiken zu mindern und Ausbreitungen zu verhindern. Durch die laufende COVID-19-Pandemie finde daher ein Umdenken statt, dass die Transmission von Viren über Aerosole hervorhebt.
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