KI-Experten haben ein neues Tool entwickelt, mit dem die Hautkrebs-Diagnostik noch sicherer werden kann. Aber was ist das Innovative an ihrem Ansatz?
Pro Jahr erkranken bundesweit etwa 11.000 Frauen und 12.000 Männer an malignen Melanomen der Haut – Tendenz steigend. Auf Krankenkassen kommen immense Kosten durch Diagnostik und Therapie zu.
„Studienergebnisse zeigen bei dermatoskopischen Untersuchungen eine Sensitivität von lediglich 85 Prozent,“ so Christoph Becker vom FZI Forschungszentrum Informatik. Dies sei zum Teil auch von der Erfahrung des Facharztes abhängig. Doch wie lässt sich die Zahl an Fehldiagnosen und überflüssigen Biopsien oder Exzisionen verringern? Beckers Idee: Künstliche Intelligenz hat das Potenzial, in vielen Fällen zwischen benignen und malignen Läsionen zu unterscheiden, wo das menschliche Auge versagt. Wir sprachen mit dem Forscher über sein Projekt.
Die Strategie, Hautkrebs per KI-Analytik von Bilddaten zu diagnostizieren, ist nicht neu. Es gibt bereits etliche Veröffentlichungen. Becker wählte zusammen mit seinen Projektpartnern jedoch einen anderen Weg.
Er entschied sich – wie schon oft untersucht – gegen normale Fotos von Hautläsionen mit Informationen aus dem RGB-Farbraum (Rot, Grün und Blau) und gegen herkömmliche Bilddatenbanken. „Wir wollten eben nicht noch mehr Bilder erheben und auswerten, um die Treffsicherheit zu erhöhen“, sagt der Forscher zu DocCheck.
„Unsere Idee war, bei der Aufnahme einzelner Bilder mehr Informationen zu erzeugen und damit KI-Systeme zu trainieren“, so Becker. Das verwendete Messsystem bestrahlt eine Hautpartie mit den verdächtigen Läsion – aber nicht mit normalem Licht, sondern mit Strahlung unterschiedlicher Wellenlänge.
Neun LEDs im sichtbaren und im nah-infraroten Bereich kommen zum Einsatz. Sie projizieren unterschiedliche Beleuchtungsmuster auf die Hautläsion. Zwei Kameras nehmen Fotos auf und übertragen sie an ein System zum Datenmanagement. „Wir erfassen mehr, als ein menschliches Auge erkennen würde“, so der Wissenschaftler.
Das neue System wurde an der Universitäts-Hautklinik Tübingen erprobt. Ärzte fertigten Aufnahmen verschiedener Hautläsionen an. Sie führten gleichzeitig die klinische beziehungsweise pathologische Diagnostik durch. Insgesamt wurden 154 Patienten rekrutiert. Sie hatten gutartige Nävi (n = 38; 25 %), bösartige maligne Melanome (n = 19; 12 %), Basalzellkarzinome (n = 48; 31 %), Plattenepithelkarzinome (n = 21; 14 %) oder sonstige Läsionen (n = 28; 18 %). Das Durchschnittsalter der Studienkohorte betrug 67 Jahre (20–97 Jahre).
Ein Teil der Aufnahmen wurde dem Trainingsdatensatz zugeordnet, um Algorithmen „beizubringen“, benigne und maligne Hautläsionen zu unterscheiden. Hinzu kamen künstlich erzeugte Trainingsdaten: einfache RGB-Bilder von Hautläsionen sowie ein Schichtenmodell der Haut als Basis der Simulation. Als KI griffen die Forscher auf ein künstliches neuronales Netz zurück, das biologische Vorgänge im Gehirn beim Lernen imitiert.
Nach dieser „Lernphase“ testen die Forscher das trainierte KI-Modell mit den verbliebenen klinischen Daten. Ihr Ergebnis: Die Genauigkeit lag bei 91,6 Prozent – ein hervorragender Wert. „Allerdings muss man vorsichtig mit einer Aussage sein, bis man genügend Daten für Trainings- und Testzwecke hat“, so Becker.
Genau hier setzen die Forscher jetzt an. Sie wollen zu größeren Datensätzen kommen, um die Zuverlässigkeit ihres Systems zu bewerten. Das Charmante am Prinzip: „Wird beispielsweise ein Muttermal entfernt, können solche Daten dem KI-System zur Verfügung gestellt werden, damit es weiter lernt“, sagt Becker. „Je länger wir das System betreiben, desto besser wird es.“ Läuft alles nach Plan, wäre die neue Technologien bereit für den Sprung in die Praxis.
„Wir sind zum aktuellen Zeitpunkt ein rein wissenschaftliches Konsortium der Innovationsallianz Baden-Württemberg“, erklärt Becker. „Man bräuchte starke Praxispartner, um den Weg hin zu einem Produkt zu gehen.“ Denkbar wäre eine Ausgründung oder eine Partnerschaft mit Firmen. Am Ende des Weges steht eine Zulassung als Medizinprodukt.
„Unser langfristiges Ziel ist, Ärzte zu unterstützen“, erklärt der FZI-Experte. Er sieht die im Projekt entwickelte Anwendung perspektivisch nicht nur bei Dermatologen, sondern eventuell in ländlichen Hausarzt-Praxen, wenn der nächste Facharzt meilenweit entfernt ist. Auch für angehende Hautärzte mit wenig Erfahrung wäre das System eine Erleichterung.
Mediziner benötigen eine Hardware- und eine Software-Komponente. Becker: „Wir haben viel Wert darauf gelegt, das Nutzerinterface recht einfach zu gestalten.“ Der Schulungsaufwand sollte möglichst gering ausfallen.
Aufnahmen lassen sich von geschultem Personal anfertigen. Die Auswertung des Bildmaterials und das Training der KI geschieht lokal. Via Cloud können im Folgeprojekt die Learnings der KI zusammengeführt werden, ohne jedoch explizite Personen- oder Bilddaten auszutauschen. Ist der Befund eindeutig negativ, müssen keine weiteren Facharzttermine und keine Biopsien oder Exzisionen erfolgen. Das ist sicher auch eine Möglichkeit, dem regionalen Mangel an Fachärzten zu begegnen.
Bildquelle: vitolda klein, unsplash