Um ein neues Herzkatheter-Labor rechtfertigen zu können, sollte der Herzkathetertisch möglichst oft belegt sein. In einer Klinik in NRW gefährden Ärzte deshalb Patienten mit kardiologischen Untersuchungen weit abseits der Leitlinien. Dies berichtet ein Arzt exklusiv der Redaktion.
„Ich konnte meine Tätigkeit in der Kardiologie nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren“, sagt Stefan Fendt (Name geändert). Er ist Arzt und arbeitet in einer Klinik in Nordrhein-Westfalen. Er berichtet von Überdiagnostik teilweise zum Schaden von Patienten und Krankenkassen: „Da ist aus betriebswirtschaftlichen Gründen einfach zu viel gelaufen.“
„Fielen Schlagwörter wie Thoraxschmerzen oder Angina pectoris, hat es keine 24 Stunden gedauert, bis ein Patient für mich ohne Indikation auf dem Herzkathetertisch lag“, berichtet Fendt. Linksherzkatheter-Untersuchungen seien auf der Tagesordnung gewesen, selbst bei Patienten zwischen Ende 80 und Anfang 90 mit augenscheinlich leichten Beschwerden. „Aufgrund geltender Leitlinien gibt es klare Indikationen, um zu sagen, beim Patienten ist die Wahrscheinlichkeit einer koronaren Herzerkrankung groß und die Untersuchung macht Sinn.“ Nichtinvasive Verfahren wie Kardio-CTs oder Kardio-MRTs, die Patienten mit geringem Risiko das unangenehme Prozedere ersparen könnten, seien gar nicht erst diskutiert worden. Des Weiteren seien auch viele Personen zur Kontrollkoronarangiographie einbestellt worden, ohne dass es zuvor schwerwiegende Interventionen gegeben habe. Die Gründe liegen für Fendt auf der Hand: „Bislang gab es im Haus zwei Herzkatheter-Labore. Das große Ziel vom Chef war ein drittes Labor.“ Ohne entsprechende Zahlen spiele die Verwaltung nicht mit. „Um Quoten zu erfüllen, wurden Indikationen deshalb sehr großzügig gestellt.“ Damit ließ es die Kardiologie aber nicht bewenden. „Ich habe öfter erlebt, dass Patienten im hohen Alter katheterisiert wurden, sich ein bypasspflichtiger Befund ergab und sie dann zur OP geschickt wurden“, berichtet der Arzt. „Bei Freunden oder Bekannten hätten wir das nie zugelassen.“ Fendt weiter: „Wir haben erfahren, dass es Verträge oder zumindest Absprachen zwischen Kliniken gibt, dass pro Quartal eine gewisse Zahl an Patienten zur Bypass-OP vorbeigeschickt wurden.“ Denn sein Haus habe keine eigene Herzchirurgie. „War eine Indikation nicht eindeutig, also wenn Stent oder Bypass aus medizinischer Sicht möglich gewesen wären, war klar, dass man sich für den Bypass entschied.“ Dieses System aus Überdiagnostik und Übertherapie schadet nicht nur Krankenkassen, sondern vielen Menschen auch direkt. Fendt verweist auf mögliche Komplikationen von Herzkatheter-Untersuchungen wie Nierenversagen durch Kontrastmittel, Einblutungen in die Bauchhöhle oder Aneurysmen. Im OP gehen die Probleme dann weiter. „Nicht selten haben wir Patienten in gutem Allgemeinzustand weggeschickt und postoperativ traten Wundheilungsstörungen, Narkoseschäden oder Infektionen auf.“
Deshalb hat Fendt die Abteilung intern gewechselt. Er ist jetzt in der Gastroenterologie – und kommt vom Regen in die Traufe: „Gerade heute hatten wir einen jungen Mann mit Erbrechen bei uns. Da wurde gleich eine Magenspiegelung durchgeführt.“ Er bezweifelt, dass das angesichts fehlender Hinweise auf eine schwere Erkrankung, erforderlich gewesen wäre. Naheliegende Erklärungen wie Infektionen oder auch erhöhter Alkoholkonsum seien gar nicht in Erwägung gezogen worden. „Auch hier legen Chefs Indikationen eher großzügig aus, wobei Gastroskopien oder Koloskopien deutlich weniger risikoträchtig sind, verglichen mit Herzkatheter-Untersuchungen.“
Neben Untersuchungen ärgert sich Fendt auch über Fallpauschalen. „Viele Krankenhäuser haben heute Programme mit einem symbolhaften Ampelsystem.“ Liegt der Patient zu kurz, warnt eine rote Farbe vor frühzeitigen Entlassungen. Möchte er aber noch eine Nacht bleiben, weil seine Angehörigen ihn vielleicht erst nach dem Wochenende abholen, warnt das System ebenfalls, dass die Klinik so ein Minus macht. „In der Kardiologie hat unser Chefarzt jeden Morgen alle Daten durchgeklickt und teilweise Patienten hinausgeworfen. Sie kamen dann nach ein paar Tagen wieder, weil sie alleine nicht zurechtgekommen sind.“ Um Klinikbetten möglichst gewinnbringend einzusetzen, werden aber nicht nur Fallpauschalen ausgereizt. „In unserem Haus gibt es eine Geriatrie, die sogenannte Komplexbehandlungen durchführt“, berichtet der Arzt. Zielgruppe sind Patienten, denen es zu gut für die Heimunterbringung, aber zu schlecht für die Versorgung in der eigenen Wohnung geht. Innerhalb von drei Wochen versuchen Fachkräfte per Physiotherapie, Ergotherapie oder Logopädie, Senioren zu mobilisieren, damit sie wieder zu Hause klarkommen. „Neulich bekamen wir die Ansage, Komplexbehandlungen deutlich zu reduzieren, um Betten nicht für das Tagesgeschäft zu blockieren.“ Hier gebe es klare Anweisungen von oben.
Wer die Schilderung von Stefan Fendt als Einzelfall abtut, irrt sich gewaltig. Bundesweit komme es aus Kostengründen vor, dass Patienten ohne medizinischen Grund im Krankenhaus untersucht bzw. behandelt würden, sagt Professor Karl-Heinz Wehkamp vom SOCIUM-Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Uni Bremen. Vor wenigen Monaten hat der Wissenschaftler Ergebnisse einer detaillierten Befragung veröffentlicht. Er hat aus dem klinischen Bereich bundesweit 32 Ärzte aus der inneren Medizin, der Gynäkologie, der Chirurgie, der Neurologie, der Psychosomatik, der Dermatologie und der Anästhesie befragt. Darunter waren 7 Fachärzte, 13 Oberärzte und 4 Chefärzte. Hinzu kamen Gespräche mit 31 Geschäftsführern. Sie arbeiteten in einzelnen Häusern (19), waren Konzernvorstände (10) oder Regionaldirektoren (2). Seine Arbeit ist nicht repräsentativ, weist aber dennoch auf gefährliche Trends hin. Die Einschätzungen aus Administration und Medizin unterscheiden sich grundlegend. Geschäftsführer verweisen auf erforderliche Renditen, betonen aber mehrheitlich, medizinische Entscheidungen nicht zu beeinflussen. Das sehen viele der befragten Ärzte anders. Sie kritisieren, Entscheidungen treffen zu müssen, die nicht immer zum Wohle ihrer Patienten sind. Einige ausgewählte Ergebnisse aus der Befragung sind anhand eines Leitfadens in der Tabelle zusammengefasst. Daran nahmen 20 Ärzte und 21 Geschäftsführer teil.
Wehkamp lässt auch ein paar Ärzte anonym zu Wort kommen:
Geschäftsführer bestätigen dies durch ihre anonymen Statements mehr oder minder direkt:
Im Gespräch mit Spiegel online erklärt Wehkamp, warum etablierte Kontrollmechanismen nicht greifen. „Nehmen wir Hüftgelenksoperationen: Anhand der medizinischen Daten und der Überlebensrate von Patienten kann man zwar einiges über den Erfolg und die Qualität des Eingriffs aussagen. Ob er in den einzelnen Fällen tatsächlich medizinisch notwendig war, kann man nicht sehen.“ Deshalb rät der Experte allen Patienten, eine zweite Meinung einzuholen. Patentrezepte gegen die Kollision medizinischer und ökonomischer Interessen hat auch er nicht. Fendt hat inzwischen eine eigene Art gefunden, mit der Situation umzugehen: Er rät allen Ärzten in einer ähnlichen Lage, ausführlich mit Patienten zu sprechen: „War die Indikation mehr als fragwürdig, habe ich deutlicher auf mögliche Komplikationen hingewiesen als üblich – und mögliche Alternativen aufgezeigt.“ Für ihn ist aber klar, dass sich so schnell nichts ändern wird. Deshalb wechselt er bald in eine Tätigkeit als niedergelassener Arzt. Probleme gebe es auch dort, allerdings keine patientengefährdenden Untersuchungen.