Die Pandemie erschwert vieles im medizinischen Alltag – insbesondere bei der Palliativarbeit. Drei aktuelle Leitlinien geben eine Hilfestellung für die Medizin des Abschieds.
Wissenschaftler des Verbundes Palliativversorgung in Pandemiezeiten (PallPan) haben eine „Nationale Strategie für die Betreuung von schwerkranken und sterbenden Menschen und ihren Angehörigen in Pandemiezeiten“ erstellt. „Die Coronapandemie hat in vielen Bereichen zu räumlicher Distanz geführt und menschliche Nähe eingeschränkt. Vor allem in der Begleitung von schwerkranken und sterbenden Menschen haben die Betroffenen selbst und ihre Angehörigen dies als sehr schmerzvoll und häufig traumatisierend erlebt“, so der Forschungsverbund.
Das Ziel der Leitlinie ist klar definiert: Im Rahmen der Behandlung einer SARS-CoV-2-Infektion mit akuter respiratorischer Insuffizienz muss ein Bewusstsein dafür bestehen, dass diese akute Erkrankung das terminale Ereignis einer schweren Komorbidität darstellen kann. Der Palliativversorgung mit dem Ziel der optimalen Linderung von belastenden Symptomen kommt in diesen Situationen eine besondere Bedeutung zu.
Kernstück der Strategie sind 33 konkrete Handlungsempfehlungen, die sich in drei Abschnitte gliedern: Patienten und Angehörige, Mitarbeiter und Strukturen sowie Angebote der Palliativversorgung.
In Studien bei COVID-19-Patienten werden die bestehenden Empfehlungen zur medikamentösen Therapie von Dyspnoe mit Opioiden, von Angst mit Benzodiazepinen, von Rasselatmung mit Anticholinergika wie Butylscopolamin und von Delir mit Antipsychotika unterstrichen. Bisher gibt es keine randomisierten kontrollierten Studien zu medikamentösen oder nicht-medikamentösen Interventionen zur Symptomlinderung bei COVID-19-Patienten.
Aufgrund der hohen Konzentration von Viren im Nasen-/Rachensekret sollten alle vermeidbaren Manipulationen im Nasen-/Rachenraum bei COVID-19-Patienten oder bei Patienten mit Verdacht auf Corona-Infektion unterbleiben, so die Empfehlungen.
Patienten mit COVID-19 können sowohl durch trockenen als auch produktiven Husten belastet sein. Zu den allgemeinen Maßnahmen gehören hier ausreichende Luftfeuchtigkeit im Raum, orale Flüssigkeitsaufnahme, saure Bonbons lutschen und eine Lagerung bei aufgerichtetem Oberkörper beim Schlafen. Ergänzend können Benzodiazepine wie Lorazepam oder Midazolam dem Patienten Erleichterung bringen. Bei produktivem Husten sollte insbesondere tagsüber möglichst von antitussiven Medikamenten Abstand genommen werden.
Als Hustenblocker werden Morphin, Codein und Noscapin eingesetzt. Gegen die Rasselatmung, die häufig in der terminalen Phase auftritt, werden Parasympatholytika wie Butylscopolamin oder Glycopyrronium parenteral verabreicht.
Bei ausgeprägter Atemnot mit Erstickungsängsten, Angst- und Unruhezuständen kann bei COVID-19-Patienten am Lebensende eine gezielte Sedierung (palliative Sedierung) zur Symptomkontrolle und Ermöglichung eines friedlichen Sterbens notwendig sein.
„Palliativstationen dürfen in einer Pandemie nicht geschlossen werden, vielmehr sollten die ambulanten und stationären palliativmedizinischen Dienste für die notwendige Versorgung von schwerkranken und sterbenden Patienten arbeitsfähig bleiben und gegebenenfalls angepasst oder sogar erweitert werden“, so Prof. Claudia Bausewein, München, Koordinatorin des PallPan-Verbundes und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.
Auch bei Patienten mit einer fortgeschrittenen Tumorerkrankung zählt Atemnot zu den häufigen Symptomen. Die Prävalenz liegt bei 53,4 Prozent, bei Lungentumoren sogar bei 74,3 Prozent.
Wenn Atemnot trotz optimaler Therapie der Akuterkrankung besteht, sollen medikamentöse Maßnahmen zur Symptomkontrolle eingesetzt werden, wie z. B. orale oder parenterale Opioide. Zur raschen Dosistitration sind regelmäßige Applikationen von unretardierten Opioiden bzw. Injektionen/Kurzinfusionen bei akuter Atemnot indiziert. Auf den ersten Blick erscheint es fragwürdig, einem Patienten mit Atemproblemen ein Medikament zu verabreichen, dass zu einer Atemdepression führen kann. Doch das hat einen Grund: Die Atmung wird durch die zentrale Medulla oblongata gesteuert. Hier greifen Opioide und nehmen dem Patienten das Gefühl, das er ein Sauerstoffdefizit hat. Der nachlassende Sauerstoffhunger beruhigt den Patienten und normalisiert die Atmung.
Auch in anderen Bereichen der Palliativmedizin wurden kürzlich Leitlinien angepasst. Unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) wurde die S3-Leitlinie „Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht-heilbaren Krebserkrankung“ aktualisiert und um acht Kapitel erweitert. An dieser Leitlinie waren 70 Fachgesellschaften und Organisationen beteiligt. Wer denkt, Leitlinien seien trocken, wird hier eines Besseren belehrt. Die über 550 Seiten lesen sich wie ein sehr gutes Fachbuch mit einem hohen Informationswert.
Ziel der Leitlinie ist es, die Symptomkontrolle und somit auch die Lebensqualität der Patienten zu verbessern und Ärzte sowie allen an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen evidenzbasierte Handlungsempfehlungen zu geben. Neben den bereits bestehenden Kapiteln zu Versorgungsstrukturen, Kommunikation, Atemnot, Tumorschmerz, Obstipation, Depression und Sterbephase wurde die Leitlinie um die folgenden Themen erweitert:
Mehr als ein Drittel der Empfehlungen sind evidenzbasiert. Sie macht allerdings auch deutlich, dass der Forschungsbedarf in diesem Gebiet weiterhin hoch ist und es immer noch großer Kraftanstrengungen und Investitionen bedarf, um die Palliativversorgung zu verbessern. An dieser Stelle wird ein Überblick über die Neuerungen gegeben.
Die Festsetzung von Therapiezielen sowie die Entscheidung über den Beginn, die Fortsetzung oder die Beendigung medizinischer Maßnahmen bei Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung sollen im Rahmen einer partizipativen Entscheidungsfindung, d. h. mit aktiver Beteiligung des Patienten, erfolgen.
Fatigue etwa ist mit einer Prävalenz von 70–90 Prozent das häufigste Symptom bei Patienten mit einer Tumorerkrankung und auch eine häufige Nebenwirkung der Tumortherapie. Die Prävalenz und der Einfluss von Fatigue werden aber oft nicht erkannt. So wurde z. B. periphere Erschöpfung der Energie infolge verringerter Nahrungszufuhr als Ursache von Fatigue postuliert.
Einige Ursachen von sekundärer Fatigue können auch sein: Anämie, Depression, Infektionen, Dehydratation, Unterernährung, Hyperkalzämie, Hypomagnesämie oder die sedierende Nebenwirkung von Opioiden oder anderen Medikamenten.
In der Therapie können Methylphenidat, Modafinil oder Kortikoide eingesetzt werden. Als weitere medikamentöse Behandlungsoptionen stehen Donepezil, Acetylsalicylsäure, Armodafinil, Amantadin and L-Carnitin zur Verfügung. Zu diesen Optionen liegt nur wenig Evidenz vor und die Anwendung, wie so oft in der Palliativmedizin, ein Off-Label-Use.
Persistierende Schlaflosigkeit ist mit einem höheren Risiko für die Entwicklung von Angst oder Depression assoziiert und ist ein wichtiger Faktor für die Lebensqualität von Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung. Konsensbasierte Empfehlung der Leitlinie: Die Erwartungshaltungen an den Schlaf sollten thematisiert werden.
Zur Behandlung der Insomnien bei Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung sollten kurzfristig bevorzugt Zopiclon und Zolpidem und mittelfristig sedierende Antidepressiva eingesetzt werden. Weiterhin können klassische Benzodiazepine, Amitriptylin, Melatonin und sedierende Antipsychotika eingesetzt werden.
Das Restless-Legs-Syndrom ist wegen seiner hohen Prävalenz eine wichtige Differentialdiagnose. Zum Einsatz kommt eine dopaminerge Therapie mit Dopaminagonisten, die Opioidtherapie, Antiepileptika oder Eisenpräparaten.
Werte von ca. 10–70 Prozent für Übelkeit bei Krebspatienten in einem weit fortgeschrittenen Stadium und ca. 10–40 Prozent für Erbrechen zeigen die Bedeutung des Symptomkomplexes. Bei Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung und opioidbedingter Ü̈belkeit und Erbrechen sollten Medikamente mit antidopaminergen (Haloperidol) bzw. antidopaminergen und weiteren Wirkungsmechanismen (Metoclopramid) verwendet werden.
Antipsychotika mit einem breiten Wirkspektrum, wie Levomepromazin, sollten bei unzureichendem Ansprechen auf andere Antiemetika als Therapie zur Linderung von Übelkeit und Erbrechen bei diesen Patienten eingesetzt werden. Antihistaminika, wie beispielsweise Dimenhydrinat, können ebenfalls als Antiemetika eingesetzt werden, insbesondere wenn eine vestibuläre oder zerebrale Ursache wahrscheinlich ist. Dexamethason sollte zur Linderung der Emesis und bei erhöhtem Hirndruck durch Hirnmetastasen eingesetzt werden.
5HT3-Rezeptor-Antagonisten (Setrone) können zur Linderung auch außerhalb der tumortherapieinduzierten Genese ergänzend eingesetzt werden, wenn Dopaminantagonisten und Haloperidol kontraindiziert sind oder nicht ausreichend wirken. Als Reservemittel können Cannabinoide eingesetzt werden oder mehrere Antiemetika kombiniert werden, die an unterschiedlichen Rezeptoren angreifen.
Bei der malignen gastrointestinalen Obstruktion (MIO) liegt ein gastrointestinaler Verschluss aufgrund eines inkurablen intraabdominalen Tumors oder einer intraperitonealen Metastasierung vor. Patienten mit einer MIO leiden häufig unter Übelkeit und Erbrechen, Schmerzen und Obstipation. Kontinuierliche oder kolikartige Schmerzen können durch Tumoren, Hepatomegalie oder ausgeprägten Meteorismus bedingt sein.
Bei der medikamentösen Therapie sind grundsätzlich zwei verschiedene Ansätze abzuwägen. Wenn eine Wiederherstellung der Passage angestrebt wird, finden neben prokinetischen Antiemetika und Laxantien auch Kortikosteroide zur Ödemreduktion Verwendung. Ist eine medikamentöse Wiederherstellung der Darmpassage ausgeschlossen, werden neben Antiemetika und Analgetika insbesondere antisekretorische Pharmaka eingesetzt, die die intraluminale Sekretion vermindern sollen.
Anticholinergika wie Butylscopolamin können zur Reduktion der gastrointestinalen Sekretion eingesetzt werden. Anticholinergika und Prokinetika sollen aber nicht in Kombination bei Patienten mit einer nich heilbaren Krebserkrankung und MIO gegeben werden. Somatostatin-Analoga, wie Octreotid oder Lanreotid, dienen der Reduktion der gastrointestinalen Sekretion.
Abhängig vom Allgemeinzustand, dem Krankheitsstadium und der zu erwartenden verbleibenden Lebenszeit gibt es auch bei Menschen in einer palliativen Situation Wunden, bei denen eine realistische Chance auf eine Wundheilung oder Verkleinerung der Wunde besteht, so die Leitlinie. Da sich die Therapie von Wunden nicht von Nicht-Palliativpatienten unterscheidet, sei auf die S3- Leitlinie „Supportive Therapie bei onkologischen Patienten“ hingewiesen.
Angst gehört neben Depressivität zu den häufigsten psychischen Belastungen von Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung. In Abgrenzung zu den nach ICD-10 klassifizierten Angststörungen werden die subsyndromalen Ängste sowie die vom Betroffenen als ‚gesunde‘, jedoch mit großem Leid verbundenen spezifischen Ängste von Palliativpatienten im Folgenden als Angst bezeichnet, bzw. als Angst in Palliativsituationen. Für diese Formen der Angst bei Patienten mit nicht heilbarer Krebserkrankung existiert bisher keine Leitlinie.
Der Begriff „Todeswunsch“ im Kontext der Leitlinie beschreibt ein Phänomen bei Menschen mit einer lebenslimitierenden, progressiven Erkrankung. Dieses manifestiert sich im Wunsch nach baldigem Sterben bzw. dem Wunsch danach, tot zu sein.
Ein internationaler und für die Palliativmedizin repräsentativer Expertenkreis hat im Konsensus den „Wish To Hasten Death“ (Wunsch nach Beschleunigung des Sterbens) definiert als „eine Reaktion auf ein Leiden im Kontext einer lebensbedrohenden Erkrankung, bei der der Patient keinen anderen Ausweg sieht als ein beschleunigtes Sterben.
Knapp 70 Prozent der onkologischen Patienten, die an einer Studie von Wilson et al. teilnahmen, geben an, keinen Todeswunsch zu haben. 18,3 Prozent äußern gelegentliche Gedanken an den Tod und 12 Prozent nennen einen ernsthaften Todeswunsch.
Neu in die Grundsätze und kapitelübergreifend aufgenommen wurde der Ratschlag, bei Fragen der Medikamentenapplikation die Expertise eines Apothekers einzuholen.
In der Onkologie und der Palliativmedizin greifen Patienten nicht selten nach jedem Strohalm. Akupunktur, Homöopatie, Phytopharmaka und Mikronährstoffe werden therapieunterstützend eingesetzt. Die neue S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen Patienten“ soll hier eine Hilfestellung zur Evidenz sein.
Diese Empfehlung geht sehr kritisch mit Alternativen um. „Es liegen keine ausreichenden Daten aus RCTs zur Wirksamkeit auf die Senkung der Mortalität oder der krankheitsassoziierten Morbidität bei onkologischen Patienten vor. Es kann keine Empfehlung für oder gegen eine Anwendung auf die Senkung der Mortalität oder Reduktion der krankheitsassoziierten Morbidität bei diesen Patienten gegeben werden“, ist der meist verwendete Satz.
Die englische Ärztin und Mitbegründerin der Hospitzbewegung und Palliativmedzin, Dr. Cicely Saunders, hat ein bedeutendes Zitat beigesteuert: „Nicht dem Leben mehr Tage hinzufügen, sondern den Tagen mehr Leben geben.“
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