Preisdruck in der Heilmittelversorgung und Nullretaxationen: GKVen setzen auf rigides Sparen, auch bei Inkontinenzprodukten, auf die Millionen Menschen angewiesen sind. Sie schaden den Versicherten und der Gesundheitsbranche insgesamt.
Eine negative Bilanz: Gesetzliche Krankenkassen schlossen laut vorläufigen Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) das Jahr 2014 mit minus 1,2 Milliarden Euro ab. Als mögliche Gründe gelten Prämienzahlungen für Versicherte, aber auch freiwillige Leistungen wie alternative Heilmethoden oder Impfungen jenseits des Leitungskatalogs. Betroffen sind ministerialen Schätzungen zufolge die Techniker Krankenkasse (TK) und Barmer GEK. Auch Betriebs- und Innungskrankenkassen (BKK) schrieben rote Zahlen. Allgemeine Ortskrankenkassen (AOK) verbuchten jedoch ein Plus. Bleiben noch immense Rücklagen. „Mit Reserven von rund 28 Milliarden Euro steht die gesetzliche Krankenversicherung auf einer soliden Grundlage“, so Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). Einige GKVen scheinen anderer Meinung zu sein. Sie versuchen, weitere Schätze zu heben – auf Kosten von Patienten und Apothekern.
Aktuellstes Beispiel: die Versorgung mit Windeln oder Einlagen. Mindestens fünf Millionen Menschen leben in Deutschland mit Inkontinenz, berichtet der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed). Von ihnen werden 1,2 Millionen Patienten ambulant und 0,3 Millionen in Pflegeheimen versorgt. Mitte 2014 hatte die AOK Bayern Hilfsmittelverträge gekündigt. Apotheker bekamen zuvor 33,50 Euro für aufsaugende Hilfsmittel - als Erst- oder Folgeverordnung. Der Obolus sollte Produkte, aber auch Beratungsleistungen abdecken. Im neuen Vertrag ist nur noch von 25 Euro bei Harninkontinenz die Rede - ein Minus von 25 Prozent. Bei Patienten mit Harn- und Stuhlinkontinenz gibt es 29 Euro, und bei Kindern beziehungsweise Jugendlichen 38 Euro. Angaben des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ zufolge erstattet die DAK-Gesundheit noch geringere Summen – die Rede ist von knapp 13 Euro. Verträge mit Apothekern werden in diesem Bereich nicht mehr abgeschlossen. Schlechte Qualität oder hohe Eigenbeteiligung – damit müssen gesetzlich Versicherte leben. Reizungen durch Urin erhöhen aufgrund von Mazerationen der Haut das Dekubitus-Risiko. Mehrere Patientenorganisationen haben bereits Karl-Josef Laumann (CDU) kontaktiert. Der Patientenbeauftragte äußerte zuletzt deutliche Kritik an Kassen: „Es kann nicht sein, dass etwa aus wirtschaftlichen Gründen die Bedürfnisse und Schamgefühle der Betroffenen missachtet werden.“ Apotheker warnen vor gefährlichen Einsparungen, bislang ohne Erfolg.
Die Welle rollt ungebremst weiter. Jetzt hat die AOK Baden-Württemberg einen Hilfsmittelvertrag über ableitende Inkontinenzprodukte aufgekündigt. Sachliche Gründe gibt es nicht. Vertreter der Apothekerverbände spekulieren eher, ein Ziel sei, neuen Abmachungen deutlich unterhalb des Festbetrags zu paraphieren. Aus Niedersachsen kommen weitere Hiobsbotschaften. Die regionale AOK hat Verträge über Stomaartikel und über die Versorgung mit Hilfsmitteln, Verbandstoffen sowie Sonden- und Trinknahrung bei enteraler Ernährung gekündigt – mit ähnlichen Beweggründen. Auf die neue Verhandlungsrunde darf man gespannt sein. Apotheker haben immer seltener Möglichkeiten, sich zu beteiligen, derart stark werden Preise gedrückt. Sie haben allenfalls noch im Rahmen bundesweit tätiger Kooperationen den Hauch einer Chance. Ingrid Fischbach (CDU), parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit, sieht trotzdem keinen Handlungsbedarf. "In Verträgen wird der Leistungserbringer zur Sicherstellung einer bedarfsgerechten, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnissen entsprechenden Versorgung verpflichtet", sagte sie kürzlich im Bundetag.
Dass sich Standesvertreter trotz entsprechender Probleme kaum zu Hilfsmitteln äußern, erstaunt nicht wirklich. Ein Blick auf Zahlen: Mit Arzneimitteln setzten öffentliche Apotheken im Jahr 2013 rund 40,5 Milliarden Euro (90,8 Prozent) um. Zum Vergleich: Bei medizinischem Bedarf und Krankenpflege-Artikeln waren es magere 1,8 Milliarden Euro (4,0 Prozent). GKVen sägen auch am Rx-Bereich, und Nullretaxationen entwickelten sich zum Flächenbrand. Seit Januar überprüfen etliche Betriebskrankenkassen Verordnungen eigenen Angaben zufolge gründlicher denn je. Kein Einzelfall: „Wer nicht in der Lage ist, eine ordentliche Rechnung zu stellen, kann nicht erwarten, ordentlich vergütet zu werden“, sagte Professor Dr. Herbert Rebscher, Chef der DAK-Gesundheit. Die Antwort kam postwendend: „Wir Apotheker versorgen tagtäglich rund um die Uhr Millionen Patienten mit lebenswichtigen Arzneimitteln, aber einzelne Krankenkassenvertreter glauben offensichtlich, die Zeche dafür prellen zu können. Das ist ebenso unverschämt wie inakzeptabel“, so Fritz Becker, Präsident des Deutschen Apothekerverbands.
Sein Problem: Das Bundessozialgericht (BSG) hatte Nullretaxationen prinzipiell gebilligt, und Verfassungsbeschwerden waren ebenso gescheitert. Apothekern bleibt nur, sich mit dem GKV-Spitzenverband am grünen Tisch zu einigen, wie im GKV-Versorgungsstärkungsgesetz vorgesehen. Erneut schießen Versicherer quer. In einer kürzlich veröffentlichten Stellungnahme kritisiert die AOK bundesweite Regelungen zum Nullretax. Ihre Strategie: Übereinkünfte auf Ebene der Kammerbezirke. Divide et impera – damit hatten Versicherungen schon bei Heilmittelversorgungsverträgen Erfolg.