Berichte über Nebenwirkungen von Corona-Impfungen gibt es viele. Doch Forscher fanden jetzt Hinweise darauf, dass ein Großteil dieser Impfreaktionen auf den Nocebo-Effekt zurückzuführen ist.
Müdigkeit, Kopfschmerzen und gerötete Einstichstellen: Nach der Impfung gegen SARS-CoV-2 treten häufig Impfreaktionen unterschiedlicher Schwere auf. Diese sind weitgehend harmlos und hauptsächlich ein positives Zeichen dafür, dass das Immunsystem auch auf den verabreichten Impfstoff reagiert. Nur sehr selten (0,02 %) kommt es zu schwerwiegenden Nebenwirkungen, wie Myokarditis nach der Impfung mit mRNA-Impfstoffen oder der Bildung von Sinusvenenthrombosen nach Impfung mit Vektorimpfstoffen.
Aber trotz ihrer sehr geringen Prävalenz befeuern die Impfkomplikationen doch Ängste in Bezug auf die Covid-Impfungen. Die hohe Wahrscheinlichkeit für normale, nicht sehr schwerwiegende Impfreaktionen tut das Übrige und so hält die Sorge vor Nebenwirkungen viele Menschen von der potenziell lebensrettenden Impfung ab.
Paradoxerweise kann jedoch gerade die Angst vor Nebenwirkungen dazu führen, dass diese auftreten: In randomisierten, kontrollierten Studien (RCT) werden Patienten im Vorhinein über die möglichen Nebenwirkungen informiert, die auftreten könnten – unabhängig davon, ob sie tatsächlich das Medikament oder nur das Placebo erhalten. Dies führt dann dazu, dass auch im Placebo-Arm einer Studie unerwünschte Nebenwirkungen registriert werden. Nocebo-Effekt wird dieses Phänomen genannt; also das Auftreten von negativen Wirkungen nach Gabe eines wirkstofflosen Scheinmedikaments. Die Analyse der Nebenwirkungen im Kontrollarm der Studie einer RCT hilft, diesen Einfluss aufzudecken und einzuschätzen, welche Rolle negative Erwartungen bei der Behandlung spielen.
Sind Nebenwirkungen der Covid-Impfung also als eine selbsterfüllende Prophezeiung zu verstehen? Eine neu erschienene Studie in der Fachzeitschrift The Lancet Regional Health – Europe befasste sich mit diesem Thema. Durch die Analyse von Daten aus den Zulassungsstudien von Comirnaty® und weiteren Impfstoffen wollten die Forscher herausfinden, in welchem Maß der Nocebo-Effekt beim Auftreten von Nebenwirkungen eine Rolle spielen könnte.
Dazu untersuchten sie mehrere Phase-III-Studien von verschiedenen SARS-CoV-2-Impfstoffen. Betrachtet wurden dabei nur solche Studien, in denen den Probanden der Kontrollgruppe eine Kochsalzlösung als Placebo injiziert wurde; die Studien zum Impfstoff von AstraZeneca wurden daher nicht in die Analyse inkludiert. In diesen wurde in der Mehrheit nämlich die Kontrollgruppe mit einer Meningokokken-Impfung behandelt, anstelle eines wirkstofffreien Placebos.
Die drei ausgewählten Studien bezogen sich also auf die Impfstoffe Comirnaty® (Pfizer/Biontech), Spikevax® (Moderna) und Janssen® (Johnson & Johnson). Von den insgesamt 10 RCT, die in den Studien dokumentiert wurden, untersuchten 5 einen der beiden mRNA-Impfstoffe, die anderen 5 den Adenovirus-basierten Vektorimpfstoff. So ergaben sich drei Gruppen für die Auswertung: Biontech mit 8.080 Probanden (4.040 davon erhielten den Wirkstoff), Moderna mit 30.323 (davon 15.168 in der Wirkstoffgruppe) und Johnson & Johnson mit 6.736 Probanden (3.356 erhielten Wirkstoff).
Die aufgetretenen Nebenwirkungen wurden in 11 Kategorien eingeteilt. Systemische Nebenwirkungen waren Gelenkschmerzen, Schüttelfrost, Müdigkeit, Fieber, Kopfschmerzen, Muskelschmerzen und Übelkeit; lokale Nebenwirkungen umfassten Rötung, Schmerz und Schwellung an der Einstichstelle. Es handelte sich dabei um zu erwartende Nebenwirkungen, auf die die Teilnehmer explizit hingewiesen wurden und auf die sie in den Tagen nach den Impfungen achten sollten. Die Altersverteilung und das Geschlechtsverhältnis waren in allen Studien vergleichbar.
Wie zu erwarten, war in jeder Studie die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Nebenwirkungen in der Wirkstoff-Gruppe höher als in der Placebo-Gruppe. Die vier häufigsten Nebenwirkungen in den untersuchten Studien waren dabei Müdigkeit, Kopfschmerzen, Muskelschmerz und Schmerzen an der Einstichstelle. Interessanterweise fiel auf, dass bei den Placebo-Gruppen eher systemische Nebenwirkungen auftraten: Am häufigsten wurde von Kopfschmerzen und Müdigkeit berichtet. In den Gruppen, in denen der tatsächliche Impfstoff verabreicht wurde, lagen hingegen die Schmerzen an der Einstichstelle klar vorne. Dort unterschieden sich Impf- und Placebo-Gruppe am deutlichsten: Während sich der Anteil in der Placebo-Gruppe zwischen 12–17 % bewegte, meldeten um die 80 % der mRNA-Empfänger und immerhin knapp 50 % der Janssen®-Empfänger lokale Schmerzen.
Ansonsten lagen die Prävalenzen allerdings in ähnlichen Größenordnungen; sie unterschieden sich in der Regel zwischen 8 und 20 Prozentpunkten. Die exakten Werte für die Anzahl der Betroffenen aufgeschlüsselt nach den jeweiligen Impfstoffen (jeweils erste Impfdosis) und Gruppen sind in der folgenden Tabelle aufgelistet.
Impfstoff
Wirkstoff-Gruppe
Placebo-Gruppe
Müdigkeit
Comirnaty®
1700
42 % (95 % KI: 40,6–43,6)
1172
29 % (95 % KI: 27,6–30,4)
Spikevax®
5635
37 % (95 % KI: 36,4–37,9)
4133
27 % (95 % KI: 26,6–28,0)
Janssen®
1283
38 % (95 % KI: 36,6–39,9)
728
21 % (95 % KI: 20,2–22,9)
Kopf-schmerzen
1413
35 % (95 % KI: 33,5–36,4)
1100
27 % (95 % KI: 25,9–27,3)
4951
33 % (95 % KI: 31,9–33,4)
4027
26 % (95 % KI: 25,9–27,3)
1306
39 % (95 % KI: 37,3–40,6)
802
24 % (95 % KI: 22,3–25,2)
Muskel-schmerzen
738
18 % (95 % KI: 17,1–19,5)
398
10 % (95 % KI: 8,9–10,8)
3441
23 % (95 % KI: 22,0–23,4)
2071
14 % (95 % KI: 13,1–14,2)
1113
33 % (95% KI: 31,6–34,8)
430
13 % (95 % KI: 11,6–13,8)
Schmerz an Einstichstelle
3186
79 % (95 % KI: 77,6–80,1)
488
12 % (95 % KI: 11,1–13,1)
12690
84 % (95 % KI: 83,1–84,3)
2658
17 % (95 % KI: 16,9–18,1)
1632
49 % (95 % KI: 46,9–50,3)
564
17 % (95 % KI: 15,4–17,9)
Neben den reinen Häufigkeiten fiel ebenfalls auf, dass die Nebenwirkungen bei einer Zweitimpfung in den Placebo-Gruppen durchgehend ab-, in den Wirkstoff-Gruppen jedoch zunahmen. So stieg beispielsweise die Prävalenz von Kopfschmerzen bei den Empfängern des Moderna-Impfstoffes von 33 % auf 59 % (95 % KI: 57,8–59,4), während sie bei den Placebo-Empfängern von 26 % auf 23 % (95 % KI: 22,7–24,1) abnahm. Gleiches ließ sich auch für Müdigkeit und Muskelschmerzen beobachten, sowohl beim Moderna-Impfstoff, als auch bei dem von Biontech. Dies ließ die Forscher auf einen Gewöhnungseffekt bei den Placebo-Gruppen schließen. War ihnen die Situation bereits bekannt und wussten sie schon, was auf sie zukam, hatten die Teilnehmer ein vermindertes Risiko für Nebenwirkungen.
„Die Daten aus unserer Studie stützen die Hypothese, dass ein erheblicher Anteil der Nebenwirkungen der COVID-19-Impfstoffe auf Nocebo-Effekte zurückzuführen sein könnte“, fassen die Forscher ihre Ergebnisse zusammen. Sie sehen die Möglichkeit, durch verbesserte Aufklärung der Patienten einen Beitrag zur Prävention insbesondere der systemischen Nebenwirkungen zu leisten und auch die Impfbereitschaft zu erhöhen. „Die Medien und die Angehörigen der Gesundheitsberufe könnten diese Nebenwirkungen durch positives Framing und durch die Sensibilisierung für den Nocebo-Effekt möglicherweise verringern.“ Dazu könne gehören, den hohen Anteil an Patienten zu betonen, die keine oder nur sehr geringfügige Nebenwirkungen entwickelt haben oder eben auf die vergleichbaren Prävalenzen in Placebo- und Impfstoffgruppen hinzuweisen.
Bei der Bewertung der Studie sollte allerdings bedacht werden, dass sich die Daten nur auf 3 Studien stützen und somit keine richtige Meta-Analyse darstellen. Auch sollte beachtet werden, dass die hier in den Studien für mRNA-Impfstoffe erhobenen Prävalenzen insgesamt niedriger sind als üblicherweise angegeben. In den Aufklärungsbögen des RKI wird beispielsweise für die Impfung mit Comirnaty® die Wahrscheinlichkeit für lokalen Schmerz mit > 80% angegeben, für Müdigkeit > 60 %, Kopfschmerzen > 50 % und Muskelschmerzen > 30 %. Bei der Moderna-Impfung sind die Wahrscheinlichkeiten noch um weitere 10 % höher beziffert. Auch Fieber, Schüttelfrost und Übelkeit sind in der Studie im Vergleich zu den RKI-Daten unterrepräsentiert. Die Gründe für diese Diskrepanz sind unklar.
Bildquelle: Ricardo Gomez Angel, unsplash