Hierzulande treten Zwischenfälle durch Anästhesien äußerst selten auf – Patienten schlummern während einer Vollnarkose sicher wie in Morpheus' Armen. Was genau im Gehirn vor sich geht, untersuchen Forscher nach wie vor. Neue Anästhetika stehen ebenfalls auf ihrer Agenda.
Narkosen – aber sicher: Hierzulande herrschen hohe Standards, das zeigen wissenschaftliche Analysen. Die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und der Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA) haben Daten zu 1,36 Millionen Narkosen erfasst und analysieren lassen. Dabei traten 36 schwere Komplikationen auf, sprich Todesfälle oder bleibende Dauerschäden. Nur zehn Ereignisse standen in eindeutigem Zusammenhang mit der Narkose. Rein statistisch liegt das Risiko schwerer Zwischenfälle bei eins zu 140.000.
Manche Folgen einer Inhalationsnarkose fallen erst auf den zweiten Blick auf, berichtet Greg Stratmann, San Francisco. Zusammen mit Kollegen untersuchte er 56 Kinder zwischen sechs und elf Jahren. Jeder zweite Studienteilnehmer hatte in den ersten beiden Lebensjahren eine Inhalationsnarkose erhalten, und zwar mit Halothan, Isofluran oder Sevofluran. Stratmann führte mit seinen Probanden verschiedene Gedächtnistests durch. Bei mehreren Untersuchungen schnitten Kinder der Anästhesie-Gruppe deutlich schlechter ab als Teilnehmer der Vergleichsgruppe – vor allem hinsichtlich der räumlichen Wahrnehmung und der Wiedererkennung von Farben. Einzelne Komponenten von Gedächtnistests verliefen ebenfalls schlechter. Hinsichtlich des Verhaltens beziehungsweise der Intelligenz gab es keine Auffälligkeiten. Kritiker der Studie führen an, dass kleine Kinder nicht ohne medizinische Notwendigkeit operiert werden – ihre Vorerkrankung selbst könnte zu Defiziten geführt haben.
Ähnliche methodische Schwächen hat eine Arbeit zur Periduralanästhesie (PDA). Werdende Mütter entscheiden sich oft für diesen schmerzfreien Weg der Niederkunft. Dass sich die Austreibungsphase entsprechend verlängert, ist nicht neu. Bislang war in amerikanischen Leitlinien von einer Stunde die Rede. Yvonne W. Cheng, San Francisco, hat Daten von 42.268 Frauen ausgewertet. Entschieden sich Erstgebärende für eine PDA, dauerte es fünfeinhalb Stunden, bis 95 Prozent aller Kinder das Licht der Welt erblicken. Zum Vergleich: Ohne PDA waren es zwei Stunden und 17 Minuten. Auch bei Multipara gab es Unterschiede zwischen der Gruppe ohne (eine Stunde, 21 Minuten) und mit PDA (vier Stunden, 15 Minuten). Bleibt als Kritik, dass hier lediglich von einer Assoziation gesprochen werden kann, nicht unbedingt von einer Kausalität. Gerade bei Multipara hat der Wunsch nach einer PDA möglicherweise gesundheitliche Gründe, was hier nicht erfasst wurde. Biochemische Phänomene bleiben auch heute noch mit Fragen behaftet – weniger bei PDAs, aber vor allem bei Vollnarkosen.
Ein Aspekt: Welche Gehirnregionen sind am Erwachen aus der Allgemeinanästhesie beteiligt? Älteren Arbeiten zufolge beschleunigt Methylphenidat diesen Prozess – zumindest bei Ratten. Die Substanz verstärkt Effekte von Dopamin, was für eine Beteiligung des Belohnungssystems spricht. Um entsprechende Hypothesen zu überprüfen, platzierten Wissenschaftler bei Ratten Elektroden in der Substantia nigra beziehungsweise im ventralen tegmentalen Areal – zwei Kernregionen, in denen Dopamin synthetisiert wird. Dann folgte eine Vollnarkose mit Isofluran beziehungsweise mit Propofol. Stimulierten Experimentatoren die Area tegmentalis ventralis über Elektroden, erwachten die Ratten. Impulse zur Aktivierung der Substantia nigra zeigten keinen Erfolg. Damit haben Neurobiologen ihre Hypothese, dass Regionen an der Spitze des Hirnstamms unser Erwachen nach einer Narkose steuern, bestätigt. Ältere Arbeiten zu Propofol ergaben, dass das Anästhetikum an GABA-A-Rezeptoren bindet. Anschließend öffnet sich ein Chloridkanal, und es kommt zur Hyperpolarisation. Die Nervenzelle fällt quasi aus. Aufgrund relativ lockerer Wechselwirkungen mit der Bindungsstelle gelingt es Ärzten, Anästhesien mit dem Pharmakon gut zu steuern. Nebenwirkungen und die hohe Plasmaproteinbindung gelten als nachteilig. Grund genug für Forscher, nach neuen Molekülen zu suchen.
Kein leichtes Unterfangen: Alte Anästhetika gingen häufig aus Zufallsentdeckungen hervor. Heute arbeitet die pharmakologische Forschung unter anderem mit Substanzbibliotheken und mit Screening-Verfahren. Genau hier lag bislang der Knackpunkt. Wie lässt sich die Wirkung hunderttausender Moleküle auf unser Gehirn automatisiert untersuchen? Ein relativ einfaches Assay bietet Abhilfe. Apoferritin fungiert als Modell neuronaler Bindungsstellen, und 1-Aminoanthracen simuliert Liganden. Verdrängen Chemikalien 1-Aminoanthracen, könnte es sich um neue Anästhetika handeln. Mit diesem Testprinzip hat Roderic G. Eckenhoff, Philadelphia, jetzt rund 350.000 Moleküle aus einer Substanzbibliothek gescreent. Er fand 2.600 potenziell geeignete Kandidaten, die er an Kaulquappen testete. Blieben noch vier Substanzen übrig. Nach Tierexperimenten mit Nagern verringerte sich deren Zahl auf zwei. Eckenhoff betont, es handele sich um Molekülstrukturen, die bislang nicht als Anästhetika zum Einsatz gekommen seien. Weitere tierexperimentelle Studien werden folgen.