Immer mehr Länder erlauben die ärztliche Sterbehilfe, doch hierzulande überwiegen die Stimmen der Gegner. Auch die BÄK erklärte, die Tötung von Patienten sei keine ärztliche Aufgabe. In den Niederlanden würde jeder dritte Arzt auch bei Lebensmüden eine Tötung auf Verlangen durchführen.
Sterbehilfe liegt im Trend: Am 6. Februar 2015 beschloss der oberste Gerichtshof Kanadas einstimmig das Gesetz aufzuheben, welches ärztliche Sterbehilfe unter Strafe stellt. Kanada gehört damit bald zusammen mit Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, der Schweiz, Kolumbien und den vier US-Bundesstaaten Oregon, Montana, Vermont und Washington zu den Ländern, in denen es Ärzten erlaubt ist, ihre Patienten aktiv bei einem Sterbewunsch zu unterstützen. Bisher konnten kanadische Patienten lediglich die künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr ablehnen sowie die Entfernung lebenserhaltender Systeme fordern, nicht jedoch die Hilfe eines Arztes beim Sterben erbitten. Während Kanada nun 12 Monate Zeit hat, um das Gerichtsurteil in entsprechende gesetzliche Regelungen umzusetzen, wird in Deutschland weiterhin über ärztliche Sterbehilfe diskutiert. Der Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK) positionierte sich im Dezember 2014 klar sowohl gegen die Tötung von Patienten auf deren Verlangen als auch gegen die Beihilfe zum Suizid und betonte, dass die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung keine ärztliche Aufgabe sei. Und auch der Deutsche Ethikrat betonte in seiner im Dezember veröffentlichten Ad-Hoc Empfehlung, dass die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) und damit auch der aktiven Sterbehilfe unverändert erhalten bleiben müsse.
Problematisch ist die Abgrenzung der Tötung auf Verlangen von der – in Deutschland nicht strafbaren – Beihilfe zum Suizid. Als Unterscheidungsmerkmal kann die sogenannte Tatherrschaft dienen, also die Frage, wer den Handlungsablauf dominiert: Stellt eine Person einer anderen lediglich das Mittel zur Selbsttötung zur Verfügung, wird der letzte Schritt aber vom Suizidenten selbst beherrscht, liegt eine Beihilfe zum Suizid vor. Übernimmt jedoch die andere Person die todbringende Handlung, liegt rein rechtlich gesehen kein Suizid vor, sondern ein Tötungsdelikt. Allerdings kann auch bei einer Beihilfe zum Suizid ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz (§§ 29, 30 BtmG) oder eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) vorliegen. Doch selbst, wenn der Arzt straffrei ausgeht, kann er trotzdem seine Approbation verlieren, da die standesrechtlichen Regelungen mancher Landesärztekammern einen assistierten Suizid verbieten. Erlaubt ist es hingegen, bei der Palliativversorgung lebensverkürzende Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen, wenn hierbei die Linderung des Leidens im Vordergrund steht. Liegt eine Patientenverfügung vor, ist der hierin geäußerte Wille des Patienten rechtlich bindend. Obwohl es also keine eindeutigen Regelungen zur ärztlichen Sterbehilfe gibt, spricht sich der Ethikrat gegen eine Änderung des derzeit geltenden Strafrechts aus und will keine eigene gesetzliche Regulierung der ärztlichen Suizidbeihilfe. Warum? Weil „auf diese Weise gleichsam „erlaubte Normalfälle einer Suizidbeihilfe definiert würden“. Suizidbeihilfe und ausdrückliche Angebote dafür sollten nach Meinung des Ethikrats ebenfalls untersagt werden, wenn „sie auf Wiederholung angelegt sind, öffentlich erfolgen und damit den Anschein einer sozialen Normalität ihrer Praxis hervorrufen könnten“. Der Ethikrat begründet dies mit dem Schutz sozialer Normen, in denen sich „der gebotene besondere Respekt vor dem menschlichen Leben widerspiegelt“. Die Mitglieder des Ethikrats befürchten, dass eine Normalisierung der ärztlichen Sterbehilfe den gesellschaftlichen Respekt vor dem Leben schwächen könnte. Stattdessen fordert der Ethikrat einen Ausbau der Palliativversorgung und mehr Angebote zur Suizidprävention. Tatsächlich zeigen Länder wie die Niederlande und Belgien, in denen die Tötung auf Verlangen seit 2002 erlaubt ist, einen deutlichen Anstieg der Fälle von aktiver Sterbehilfe: Immer mehr Menschen wollen dort selbstbestimmt sterben. Laut offizieller Statistik der Niederlande beendeten im Jahr 2013 4.829 Menschen auf diese Weise ihr Leben – ein Anstieg von rund 83 % im Vergleich zu 2009 (2.636 Menschen). Wie allerdings Angebot und Nachfrage zusammenhängen, bleibt bei diesen Zahlen unklar.
Ethikrat und BÄK stimmen außerdem darin überein, dass sie die ärztliche Mitwirkung bei der Selbsttötung nicht für eine Tätigkeit halten, die aus der beruflichen Verantwortung eines Arztes erwächst. Tatsächlich scheint es aber eher so, als wollten sich Ethikrat und BÄK hier schlicht und einfach aus der Verantwortung stehlen. Auf die Frage, wer denn sonst einem Suizidwilligen assistieren solle, antwortete BÄK-Präsident Frank Ulrich Montgomery: „Lassen Sie es doch den Klempner oder den Apotheker oder den Tierarzt machen, aber eben nicht den Arzt.“ Diese Einstellung teilen jedoch längst nicht alle Ärzte. In einer 2010 von der BÄK veröffentlichten Umfrage befürwortete jeder dritte Arzt eine Regelung, die den ärztlich begleiteten Suizid erlaubt. Als Gründe gaben die Befürworter an, dass es zum Selbstbestimmungsrecht eines Patienten gehöre, den Zeitpunkt seines Todes selbst zu bestimmen. Zudem verhindere der ärztlich begleitete Suizid, dass ein Patient unnötig lange Schmerzen erleiden muss. Und obwohl die Mehrheit der befragten Ärzte es für Ausnahmefälle hielt, dass Patienten mit einer schweren, unheilbaren Krankheit den Wunsch nach einem ärztlich begleiteten Suizid äußern, war doch jeder dritte Arzt schon um Hilfe beim Suizid gebeten worden. Angesichts der immer höheren Lebenserwartung und dem damit verbundenen demografischen Wandel wird die Zahl derer, die sich mit der Problematik konfrontiert sehen, weiter zunehmen.
Dass es die Aufgabe eines Arztes ist, Leben zu schützen, ist unbestritten. Doch ist dieser Schutz tatsächlich jeden Preis wert? Ab wann überwiegt das Recht eines Patienten auf Selbstbestimmung? Für viele wäre eine unheilbare Krankheit, verbunden mit unerträglichem Leid ohne Aussicht auf Besserung ein Umstand, der Beihilfe zum Suizid rechtfertigt. Eine Umfrage unter niederländischen Ärzten förderte allerdings zutage, dass sich jeder dritte Arzt vorstellen könnte, auch bei Dementen, psychisch Kranken und Lebensmüden eine Tötung auf Verlangen durchzuführen oder Beihilfe zum Suizid zu leisten. In den Niederlanden sind Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Suizid (euthanasia or physician-assisted suicide, EAS) zwar erlaubt, es müssen jedoch strenge Kriterien erfüllt sein. Das Sterbehilfegesetz macht allerdings keine Einschränkungen bezüglich der Ursache des Leidens. Aus diesem Grund verschickten die Autoren der Studie einen Fragebogen an 2.269 niederländische Allgemeinmediziner sowie Fachärzte aus den Gebieten Geriatrie, Innere Medizin, Kardiologie, Intensivmedizin, Neurologie, Pneumologie und Chirurgie, um zu klären, unter welchen Bedingungen sie sich vorstellen könnten, einer Bitte um EAS stattzugeben.
Während 85 % der Befragten im Fall einer Krebserkrankung EAS leisten würden, konnten sich 34 % der Ärzte dies ebenfalls bei psychischen Erkrankungen vorstellen. 40 % würden einer Bitte um EAS stattgeben, wenn der Patient an Demenz im Frühstadium leidet, aber nur 33 % bzw. 29 % bei einem Patienten mit fortgeschrittener Demenz mit oder ohne Komorbiditäten. Bei Patienten, die des Lebens müde sind, würden 27 % EAS leisten, wenn beim Patienten zwar medizinisch gerechtfertigte Gründe für das Empfinden von Leid vorliegen, er aber keine schwere physische oder psychische Erkrankung aufweist. Und immerhin noch 18 % der befragten Ärzte würden bei einem lebensmüden Patienten einer Bitte um EAS nachkommen, selbst wenn dieser nicht an einer anderen Erkrankung leidet. Obwohl der Umfrage zufolge 60 % der niederländischen Ärzte bereits eine EAS durchgeführt haben, betonen die Autoren der Studie, dass Patienten weiterhin kein Recht auf eine Tötung oder Beihilfe zum Suizid haben: „Jeder Arzt sollte sich seine eigene Meinung zur Tötung auf Verlangen bilden, beruhend auf gesetzlichen Vorgaben und persönlichen Werten“, erklärt Eva Bolt, Erstautorin der Studie und Ärztin am Universitätsklinikum der Freien Universität Amsterdam. Auch in den Niederlanden unterliegt also der Wunsch des Patienten nach einem selbstbestimmten Tod der individuellen Gewissensentscheidung des Arztes.