Bei der Technik der bionischen Rekonstruktion wird durch komplexe neuromuskuläre Eingriffe ein biotechnologisches Interface geschaffen, das den Patienten eine mechatronische Handfunktion ermöglicht. Auch die oft starken Phantomschmerzen verschwinden durch die Rekonstruktion.
Das Arm-Nervengeflecht des „Plexus brachialis“ steuert die menschliche Arm- und Handfunktion und wird durch fünf „Wurzeln“ aus dem Rückenmark gespeist. Durch schwere Unfälle können diese Wurzeln aus dem Rückenmark ausgerissen werden und die Hand wird funktions- und gefühllos. Mit konventionellen chirurgischen Methoden kann Betroffenen meist nicht geholfen werden. Die in der Lancet-Studie beschriebene Methode der bionischen Rekonstruktion und deren Einsatz bei drei Patienten hat das geändert. Worum es dabei geht, beschreibt Oskar Aszmann, Leiter des Christian Doppler Labors für Wiederherstellung von Extremitätenfunktionen an der Abteilung für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie an der MedUni Wien, folgendermaßen: „Die bionische Rekonstruktion ist ein Gesamtkonzept, das über eine Operationstechnik hinausgeht. Es handelt sich um komplexe neuromuskuläre Eingriffe, welche eine interaktive Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine ermöglichen.“
Am Beginn steht eine genaue Bilanzierung der globalen Hand-/Armfunktion und der verbliebenen Nervenäste. Diese werden dann im Rahmen eines operativen Eingriffes biopsiert und auf Funktionstüchtigkeit geprüft. Ist der Befund positiv, wird aus dem Oberschenkel ein Stück Muskel entnommen und in den Unterarm transplantiert. Der Muskel dient als Signalverstärker der noch vorhandenen Nerven.“ Aszmann weiter: „Durch die Muskelkontraktion entstehen ausreichend starke elektrische Signale. Diese Myosignale dienen dazu, um die neue, mechatronische Hand zu steuern.“ Doch bevor es so weit ist, übt der Betroffene zunächst über ein elektronisches Interface die Prothese zu benutzen. Das ist deshalb wichtig, weil das Gehirn der Patienten vergessen hat, die Hand zu verwenden, da diese zum Teil bereits seit Jahren ohne Funktion war. Ist diese Tech-Neuro-Rehabilitation abgeschlossen, erfolgt die Amputation der funktionslosen Hand, die schließlich durch die Handprothese ersetzt wird – der Betroffene bekommt dadurch eine willentlich steuerbare, funktionsfähige Hand zurück.
„Für die Betroffenen ist es ein immenser Mehrwert wieder mit zwei funktionsfähigen Händen zu leben. Die Patienten finden dadurch in die Arbeitswelt zurück, ihr Beziehungsleben und ihr Privatleben verbessern sich deutlich.“ Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Thema Schmerz. „Die Betroffenen verspüren oft starke Phantomschmerzen. Diese verschwinden durch die bionische Rekonstruktion, da das Phantom durch die wieder gewonnene Funktionalität der Hand ersetzt wird.“ Erstmals angewandt wurde das Konzept der bionischen Rekonstruktion von Aszmann im Jahr 2009. Seither konnten Aszmann und sein Team die körperliche Integrität zahlreicher Betroffener wiederherstellen und ihnen damit zu neuer Lebensqualität und Lebensfreude verhelfen.
Wichtig ist es Aszmann zu betonen, dass es sich bei der bionischen Rekonstruktion um kein Body Enhancement handelt. „Wir versuchen, Defekte wiederherzustellen und keinesfalls gesunde Menschen besser zu machen.“ Aszmann steht deshalb anderen bionischen Techniken reserviert gegenüber: In einer weiteren, soeben im Fachjournal „Science Translational Medicine“ erschienenen Studie bezieht Aszmann gemeinsam mit Dario Farina von der Universität Göttingen kritisch Stellung bezüglich dem Nutzen implantierter Elektroden bei der Steuerung von Handprothesen. Die beiden Autoren kommen zum Schluss, dass die Mehrheit der derzeit eingesetzten Techniken den Betroffenen weitaus mehr schaden als helfen und aus ethischen Gründen fragwürdig sind. Originalpublikation: Bionic reconstruction to restore hand function after brachial plexus injury: a case series of three patients Bionic reconstruction to restore hand function after brachial plexus injury: a case series of three patients Oskar C. Aszmann et al.; Lancet , doi: 10.1016/S0140-6736(14)61776-1; 2015