Seit Jahrzehnten wird pathologischer Kleinwuchs mit rekombinanten menschlichen Wachstumshormonen behandelt. Die EMA empfiehlt jetzt eine verbesserte Variante.
Teil 1 unserer Serie über seltene Krankheiten und ihre Behandlung.
Vor ziemlich genau 100 Jahren gelang die Produktion von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse toter Tiere. Technologisch produziertes Insulin wurde vor genau 50 Jahren zugelassen – das erste gentechnisch hergestellte Präparat. Das Wachstumshormon hat einen ähnlichen Weg hinter sich. Seit 1963 wird es bei Kleinwuchs eingesetzt, der durch Hormonmangel entstanden ist; und seit knapp 30 Jahren wird es auch gentechnisch hergestellt. Das Wachstumshormon – oder auch Somatotropin (STH) – wird auch als Growth Hormone (GH), Human Growth Hormone (HGH) oder somatotropes Hormon bezeichnet. Eine Weiterentwicklung hat am 16. Dezember 2021 eine Empfehlung der EMA bekommen: Somatrogon.
Der Begriff „normale Körpergröße“ wird durch einen Messwert innerhalb statistisch festgelegter Normen definiert. Ist ein Kind kleiner als 97 Prozent seiner Altersgenossen, gilt es als kleinwüchsig. Seine Körpergröße liegt unterhalb der 3. Perzentile. Kleinwuchs ist also erst einmal keine Diagnose, sondern eine statistische Definition.
Davon abzugrenzen sind jedoch Wachstumsstörungen: Hier liegt ein reduziertes Längenwachstum aufgrund einer pathologischen Störung vor. Die Ursache können angeborene Fehlbildungen der Hypophyse oder Mutationen an Hypophysen-Entwicklungs-Genen, am Wachstumshormon-Gen oder anderen Genen sein. Bei Fehlbildungen der Hypophyse und bei Gendefekten führen bei den betroffenen Neugeborenen und Säuglingen besonders hartnäckige Hypoglykämien zur Verdachtsdiagnose. Dies trifft besonders zu, wenn kombinierte Ausfälle von Hypophysenhormonen inklusive ACTH und Kortisolmangel vorliegen.
Neben den genetischen Ursachen können auch eine Reihe von erworbenen Erkrankungen, wie Verletzungen oder Tumoren der Hirnanhangsdrüse, jederzeit einen Wachstumshormonmangel auslösen. Auch infolge hoch dosierter Bestrahlungen des Kopfes kann es zu einem Wachstumshormonmangel kommen. Ist die Ursache unbekannt, spricht man vom idiopathischen Wachstumshormonmangel.
Der Begriff der Wachstumsstörung beschreibt ein reduziertes Längenwachstum und ist besser geeignet, Pathologien zu vermuten. Ein Mangel des Wachstumshormons HGH gehört zu den seltenen Erkrankungen, sie betrifft etwa einen von etwa 4.000 bis 10.000 Menschen.
Es gibt mehrere Hundert Gene, die die Körpergröße regulieren; vermutlich führen Kombinationen von Polymorphismen zu unterschiedlichen Körpergrößen. Nachdem ein Kind von beiden Elternteilen genetische Informationen erbt, sind die elterliche Körpergröße und die geografische Herkunft sehr wichtige Indizien auf die mögliche Körpergröße.
Tatsächliche Wachstumsstörungen lassen sich hingegen nicht auf Polymorphismen, sondern auf Mutationen in einzelnen Genen zurückführen, die dann mit ausgeprägten Symptomen am Skelettsystem einhergehen.
Wachstum.at ist eine kostenfreie, webbasierte Software, die in Zusammenarbeit mit der MedUni Wien erstellt wurde, um Eltern und Ärzte bei der Diagnose und Verlaufskontrolle von Wachstumsstörungen zu unterstützen.
Patienten mit isoliertem Wachstumshormonmangel (IGHD) haben ein kleineres Volumen der Hypophyse, des rechten Thalamus, des Hippocampus und der Amygdala als Nichtbetroffene.
Nach der Therapie mit Wachstumshormen normalisieren sich diese Volumina auf die altersangepassten Kontrollen. Es kommt zu einer Normalisierung des Knochenaltersdefizits als Reaktion auf die rhGH-Therapie.
Bei Wachstumsstörungen (GHD) kann es zu folgenden Störungen kommen:
Die Hauptbehandlung für GHD ist die Gabe von rekombinantem menschlichem Wachstumshormon (rhGH). Bei Kindern hat die Hormonsubstitution vor allem das Ziel, vor dem Erwachsenenalter ein normwertiges Längenwachstum zu erreichen. Bei Erwachsenen überwiegen die Auswirkungen auf die Körperkonstitution, körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, den Knochen- und Fettstoffwechsel sowie die damit verbundene gesteigerte Lebensqualität. Eine Therapie hat positive Effekte auf die Körperkomposition, wie zum Beispiel das Verringern des viszeralen Fettgewebes und die Verbesserung der Lebensqualität. Außerdem wird eine Verbesserung des Lipidprofils der Probanden festgestellt. Der Erfolg einer Substitutionstherapie mit Wachstumshormon ist umso besser, je früher die Therapie beginnt.
Bei strenger Indikationsstellung – Patienten mit partiellem oder vollständigem GH-Mangel, Mädchen mit Ullrich-Turner-Syndrom, SGA-Kinder, Kleinwuchs aufgrund chronischer Niereninsuffizienz – weist die Therapie eine sehr gute Verträglichkeit auf. Mögliche Nebenwirkungen sind in seltenen Fällen ein dysproportioniertes Wachstum.
Insgesamt ergibt sich im Mittel ein Größengewinn von + 0,2 cm der Standardabweichung pro Behandlungsjahr; das sind etwa 1,2 cm pro Jahr. Hieraus wird deutlich, dass der einzig wichtige klinische Parameter, der durch den Therapeuten beeinflusst und optimiert werden kann, das Alter bei Therapiebeginn ist.
Da rhGH ein Proteohormon ist, ist ein orale Einnahme nicht möglich: Es würde im Gastrointestinaltrakt durch die Magensäure zersetzt. Deshalb bedient man sich überwiegend der subkutanen Applikationsform. Es stehen sowohl Einmalspritzen als auch Injektionsgeräte für den Mehrfachgebrauch zur Verfügung.
Aufgrund seiner kurzen Halbwertszeit (0,5 bis 2 Stunden s. c.) muss rhGH bisher täglich injiziert werden. Häufige Injektionen verursachen bei den Kindern Stress, mindern die Lebensqualität und verringern somit die Adhärenz. Deshalb war und ist es Ziel wissenschaftlicher Forschung, die Wirkdauer der rhGH-Formulierungen zu verlängern, Injektionsabstände zu verlängern und die Adhärenz zu verbessern. Möglich ist dies beispielsweise über Modifikationen am Hormonmolekül: PEGyliertes rhGH (PEG-rhGH) ist eine der langwirksamen rhGH-Formulierungen mit einer verlängerten Eliminationshalbwertszeit. Das Präparat ist in Europa jedoch nicht zugelassen.
Auch im zugelassenen Präparat Lonapegsomatropin ist Somatropin vorübergehend an einen PEG-Carrier gebunden. Auch durch Proteinmodifikation (Albuminbindung oder Proteinvergrößerung) ist die Verlängerung der Halbwertszeit möglich, wie bei Somapacitan. Diese Verbindungen sind in Europa jedoch teilweise nicht für die pädiatrische Indikation zugelassen.
Bei Somatrogon handelt es sich um eine neue molekulare Einheit, die die natürliche Sequenz des menschlichen Wachstumshormons um eine Kopie des C-terminalen Peptids (CTP) der β-Kette des menschlichen Choriongonadotropins (hCG) am N-Terminus und zwei CTP-Kopien am C-Terminus ergänzt. Eine subkutane Applikation muss durch die verlängerte Wirkdauer nur einmal in der Woche erfolgen.
Die Zulassungsbehörde EMA erteilte Somatrogon ein positives Gutachten zur Zulassung. Das Orphan Drug ist zur Behandlung von Wachstumshormonmangel bei Kindern und Jugendlichen ab 3 Jahren indiziert.
Steckbrief
Name der Erkrankung
Wachstumshormonmangel (GHD)
Weitere Namen
Hormonbedingter Kleinwuchs
Häufigkeit
1 : 4.000 bis 1 : 10.000
Gestörte Funktion
Verminderte Körpergröße
Zunahme des Viszeralfettes
Reduktion der Muskelmasse
Hypercholesterinämie
Abnahme der Knochendichte
Hautatrophie, Blässe
Hypohydrosis
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Hypotonie
Psychische Beschwerden
Genlokalisation
Hypophysen-Entwicklungsgene
Orphan drugs
Somatrogon (Ngenla®)
Wirkung
Substitution (s. c.) des Wachstumshormons (modifiziert und retardiert)
Die Somatrogon-Phase-III-Studie ist eine randomisierte, offene, aktiv kontrollierte Studie, die in über 20 Ländern durchgeführt wird. Es wurden 224 pädiatrische Patienten eingeschlossen und behandelt. Dabei handelt es sich um therapienaive Kinder mit Wachstumshormonmangel, die 1:1 in zwei Gruppen randomisiert wurden. Eine Gruppe erhielt Somatrogon in einer Dosis von 0,66 mg/kg Körpergewicht einmal wöchentlich. Die zweite Gruppe bekam Somatropin in einer Dosis von 0,034 mg/kg Körpergewicht einmal täglich verabreicht. Der primäre Endpunkt der Studie war die Zunahme des Längenwachstums nach 12 Monaten. Sekundäre Endpunkte umfassten die Veränderung der Körpergröße nach sechs und zwölf Monaten und die Sicherheit.
Die Zwischenergebnisse der Studie zeigen, dass Somatrogon (hGH-CTP), das einmal wöchentlich als s. c.-Injektion verabreicht wird, dem einmal täglich verabreichten Genotropin® (HGH) nicht unterlegen ist und dass die einmal wöchentliche Verabreichung von Somatrogon im Allgemeinen gut vertragen wurde.
Das neue Orphan Drug verbessert deutlich Adährenz und Lebensqualität der Patienten. Welches Kind will schließlich schon jeden Tag einen Piks bekommen und das über Jahre hinweg. Ganz oben auf der Wünsche der Patienten und Forscher wäre eine nasale Zubereitung, an der bereits geforscht wird.
Interesse geweckt? Hier geht es zum nächsten Teil der Serie.
Bildquelle: Adam Nieścioruk, Unsplash