Starkes Übergewicht ist ein Symptom des Bardet-Biedl-Syndroms. Zur Therapie ist jetzt ein neuer Wirkstoff zugelassen – er könnte auch adipösen Patienten ohne BBS helfen.
Teil 3 unserer Serie über seltene Krankheiten und ihre Behandlung. Hier geht's zu Teil 2.
Ein Kind ist stark übergewichtig, hat an einer Hand sechs Finger und droht zu erblinden. Welche Erkrankung könnte das sein? Leider ist das kein Medizinquiz, sondern bis vor Kurzem nicht therapierbare Realität. Das Kind leidet vermutlich am Bardet-Biedl-Syndrom (BBS). Für diese seltene Erkrankung wurde nun ein Arzneistoff zugelassen: Setmelanotid. Er könnte zukünftig auch Patienten mit krankhaftem Übergewicht helfen.
Die zentrale Bedeutung der Fettleibigkeit bei dem Syndrom wurde bereits vor mehr als 150 Jahren erkannt. Die britischen Augenärzte Laurence und Moon beschrieben 1866 ein Krankheitsbild, bei dem in einer Familie bei vier Personen Retinitis pigmentosa (RP) diagnostiziert wurde. Die Betroffenen litten zusätzlich an Paraplegie, Hypogenitalismus und geistiger Behinderung.
Der französische Arzt Georges Louis Bardet beschrieb 1920 in seiner Dissertation zwei Mädchen mit Polydaktylie, Fettleibigkeit und RP. Der ungarische Pathologe und Endokrinologe Artur Biedl definierte den BBS-Phänotyp zwei Jahre später in seiner Beschreibung von Geschwistern mit Fettleibigkeit.
Die Leitsymptome des Bardet-Biedl-Syndroms bestehen aus:
Weitere Begleitsymptome können Wachstumsstörungen, Asthma, Hypertonie, Diabetes, Innenohrschwerhörigkeit, Hauterkrankungen, Morbus Crohn und weitere Komorbiditäten sein. Außerdem sind Schlafstörungen und Schlafapnoe bei Menschen mit BBS sehr häufig.
Beim verwandten Alström-Syndrom handelt es sich um eine Erkrankung, die phänotypische Ähnlichkeiten zum Bardet-Biedl-Syndrom zeigt und die durch autosomal-rezessive genetische Veränderungen im ALMS1-Gen verursacht wird. Zu den Symptomen des Alström-Syndroms gehören Retinitis pigmentosa, Adipositas, Nieren- und Leberfunktionsstörungen, Insulin-Resistenz und Hyperinsulinämie sowie dilatative Kardiomyopathie.
Auch das Bardet-Biedl-Syndrom wird autosomal-rezessiv vererbt. Also nur wenn beide Elternteile das veränderte Allel des betroffenen BBS-Gens weitervererben, tritt die Krankheit auf. Die Wiederholungswahrscheinlichkeit bei weiteren Kindern beträgt 25 Prozent. Es ist bekannt, dass BBS mit Varianten in > 20 Genen assoziiert ist, wobei Varianten in BBS1, BBS2 und BBS10 etwa die Hälfte aller BBS-Fälle ausmachen.
Obwohl die Mechanismen der Fettleibigkeit bei BBS noch nicht vollständig verstanden sind, ist eine Störung des hypothalamischen Leptin‐Melanocortin‐Signalwegs deutlich. BBS könnte damit Einblicke in die Fettleibigkeit bei anderen monogenen und syndromalen Fettleibigkeitserkrankungen geben.
Steckbrief
Name der Erkrankung
Bardet-Biedl-Syndrom
Weitere Namen
Zilienstörung BBS
Häufigkeit
1:125.000 und 1:175.000
Gestörte Funktion
Adipositas
Entwicklungsstörungen
Retinopathien
Hauterkrankungen
Genlokalisation
20 Gene, wobei Varianten in BBS1, BBS2 und BBS10 etwa die Hälfte aller BBS-Fälle ausmachen
Orphan drugs
Setmelanotid (Imcivree®)
Wirkung
Melanocortin-Agonist (s. c.), der an MC4R-aktivierenden Neuronen wirkt
Hemmt den Appetit und bessert weitere Begleitsymptome
Beim Bardet-Biedl-Syndrom liegt überwiegend eine Stammadipositas vor. Fettpolster treten verstärkt an Bauch, Hüften, Brust, sowie an Oberarmen und Oberschenkeln auf. Adipositas ist bei nahezu allen BBS-Patienten in sehr unterschiedlichen Ausprägungen vorhanden. Überwiegend macht sich schon im Babyalter bemerkbar, es kann jedoch auch erst später zu starker Gewichtszunahme kommen.
Kinder mit genetischen Varianten mit biallelischem Funktionsverlust (LOF) sind überproportional betroffen. Die Ergebnisse einer Studie von Pomeroy et al. unterstützen die Notwendigkeit einer früheren Erkennung und Einleitung von Therapien zur Gewichtsreduktion bei BBS.
Adipozyten, die aus dermalen Fibroblasten von BBS-Patienten stammen, zeigen im Vergleich zu Kontrollen eine höhere Neigung zur Fettansammlung. Dies deutet stark darauf hin, dass eine periphere primäre Dysfunktion an der Entstehung des Übergewichtes bei BBS beteiligt ist.
Eine extrem gesteigerte Nahrungsaufnahme kann sowohl für den Betroffenen als auch für die Familie eine überwältigende Belastung darstellen und die Gesundheit und Lebensqualität stark beeinträchtigen. Handelt es sich um eine vorrübergehende Störung, können psychotherapeutische und nutritive Therapien helfen. Bei einer genetischen Störung wie dem Bardet-Biedl-Syndrom und Alström-Syndrom sind diese Interventionen langfristig aber kaum wirksam und beeinflussen auch nicht die Komorbiditäten der Erkrankungen.
Über 150 Jahre nach der Erstbeschreibung des Syndroms wurde nun ein Orphan Drug erstmals zur Therapie zugelassen: Der Melanocortin-Agonist Setmelanotid. Um zu verstehen, wie dieser wirkt, schauen wir uns den hypothalamischen Leptin‐Melanocortin‐Signalwegs näher an. Dieser kann bei dem Syndrom gestört sein.
Aus dem Hypophysenhormon Proopiomelanocortin (POMC) werden die Hormone Corticotropin und Melanotropin gebildet. Corticotropin stimuliert die Produktion von Glucocorticoiden. Melanotropin ist für die Produktion des Pigmentstoffs Melanin zuständig. Darüber hinaus reguliert es aber auch den Energiehaushalt und das Hungergefühl. Als Agonist am Melanocortin-4-Rezeptor wirkt es appetitzügelnd.
Patienten mit einem Defekt im POMC-System-kodierenden Gen leiden daher nicht nur unter Hypopigmentierung und Hypocortisolismus, sondern auch unter Adipositas und Essstörungen. Die durch den Corticotropin-Mangel verursachten Symptome können durch Substitution mit Hydrocortison behandelt werden.
Der hypothalamische Melanocortin-4-Rezeptor (MC4R) wird durch Neuronen im paraventrikulären Nucleus aktiviert und ist an der Regulation von Stoffwechsel und Körpergewicht beteiligt. Die Aktivierung von MC4R ist abhängig von der Melanocortin-stimulierenden Hormonfreisetzung durch Proopiomelanocortin-Neuronen nach Aktivierung des Leptinrezeptors. Varianten von Genen, die an diesen Signalwegen beteiligt sind, können zum Bardet-Biedl-Syndrom führen.
Setmelanotid ist ein Melanocortin-Agonist, der als Ersatz für das α-Melanocortin-stimulierende Hormon an MC4R-aktivierenden Neuronen wirkt. Die Behandlung mit Setmelanotid kann somit helfen, viele der Auswirkungen genetischer Mängel zu überwinden, die kaskadenaufwärts von MC4R im Stoffwechselweg auftreten.
Obwohl eine randomisierte kontrollierte Studie der Goldstandard für die Beurteilung der Wirksamkeit ist, ist die große Teilnehmerzahl bei seltenen Erkrankungen oft nicht möglich.
In einer Studie von Haws et al. wurden 10 Personen gescreent; acht beendeten die 3-monatige Behandlungsphase und sieben die Verlängerungsphase. Die mittlere prozentuale Veränderung des Körpergewichts vom Ausgangswert betrug −11,3 Prozent nach 3 Monaten, nach 12 Monaten −16,3 Prozent. Alle Teilnehmer berichteten über mindestens ein behandlungsbedingtes unerwünschtes Ereignis, am häufigsten eine Reaktion an der Injektionsstelle. Keine Nebenwirkung führte zum Studienabbruch oder zum Tod. Die meisten Hungerwerte wurden über die Zeitpunkte hinweg reduziert.
Die Studie ist eine laufende, randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Phase-III-Studie. Sie untersucht mit einer offenen Verlängerung die langfristige Wirksamkeit und Sicherheit von Setmelanotid zur Behandlung von Adipositas und gesteigertem Appetit bei Patienten mit BBS oder Alström-Syndrom.
Setmalanotid ist eine Sprunginnovation bei einer seltenen Erkrankung die weit oben in der pathophysiologischen Achse sehr selektiv am Melanocortinrezeptor angreift. Es ist zu hoffen, dass diese Therapie auch in naher Zukunft bei extremem, krankhaftem Übergewicht ohne BBS zur Verfügung steht. Das Medikament würde dann zwar seinen Orphan-Drug-Status verlieren, aber einer Vielzahl von Patienten nützen.
Interesse geweckt? Hier geht es zum nächsten Teil der Serie.
Bildquelle: NotMe, Unsplash