Süchtige Mütter gebären süchtige Kinder: Die Opiat-Abhängigkeit hat vor allem in den USA, aber auch in Deutschland fatale Folgen. Das zeigt ein Besuch an der Charité Berlin. Dort behandelt man abhängige Babys. Ein Experte erklärt, welche Rolle die Substitutionstherapie spielt.
Die Abhängigkeit von Opiaten bzw. Opioiden ist in den USA ein riesengroßes Problem. An erster Stelle stehen Fentanyl und Heroin, wobei auch Morphin und Codein eine Rolle spielen. Jeden Tag sterben durchschnittlich 155 Amerikaner an einer Überdosis. Pro Jahr hat sich diese Zahl in den USA seit 1999 verfünffacht. Die Leidtragenden sind nicht nur die Süchtigen selbst, sondern auch Babys von abhängigen Müttern. Die Zahl der süchtigen Neugeborenen, die in neonatologischen Intensivstationen aufgenommen werden, war 2014 vier mal so hoch wie im Jahr davor. Grund genug, einen Blick in deutsche Intensivstationen für Früh- und Neugeborene zu werfen. Gibt es diese Probleme auch hierzulande? „Wie viele Schwangere tatsächlich Betäubungsmittel missbräuchlich anwenden, können wir nicht sagen, in Deutschland gibt es keine systematische Erfassung in Registern“, sagt Dr. Jan-Peter Siedentopf. Er ist Leiter der Ambulanz für Suchterkrankungen und Infektionen in der Schwangerschaft an der Charité Berlin.Auf seiner Website hat er zahlreiche Quellen für Kollegen zum Umgang mit suchtkranken Schwangeren zusammengestellt. DocCheck sprach mit ihm über die medizinische und soziale Betreuung von Mutter und Kind. Um zumindest die Größenordnung abzuschätzen, gibt Siedentopf für Berlin als Schätzung 100 Schwangerschaften mit Opiatabhängigkeit pro Jahr bei 40.000 Geburten an.
Dr. Jan-Peter Siedentopf © Charité „Je ein Viertel aller Zuweisungen kommt über Empfehlungen, sprich von anderen Betroffenen, über Suchtmediziner, über Gynäkologen bzw. über Kontakte zu Sozialarbeitern“, erzählt der Experte. Seine Ambulanz hat sich auf Schwangere mit Opiatabhängigkeit spezialisiert. „Welche Schritte wir zu Beginn einleiten, hängt von der individuellen Situation ab.“ Zusammen mit einer Sozialpädagogin versucht er im Erstgespräch, die individuelle Situation einer neuen Patientin kennenzulernen. Bei der Versorgung gehe es immer um Gynäkologie, Infektiologie und Suchtmedizin, „das gehört untrennbar zusammen“, sagt der Arzt. Siedentopf weiter: „Eine unbehandelte drogenkonsumierende Schwangere ist aus meiner Sicht immer ein Notfall.“ Er spricht nicht nur von Risiken durch verunreinigte Spritzen oder unreine Substanzen. Durch schwankende Spiegel an Opiaten komme es bei Ungeborenen zu Wachstumsstörungen. „Außerdem kann der akute Opiatentzug in der Schwangerschaft Wehen oder eine Mangelversorgung auslösen.“ Das führt mitunter zu Frühgeburten oder zum intrauterinen Fruchttod. Opiate zeigen jedoch kein Fehlbildungsrisiko.
„Deshalb ist unsere Therapie der Wahl die zeitnahe Substitutionsbehandlung“, ergänzt der Experte. Diesen Weg bezeichnet auch die Weltgesundheitsorganisation WHO als ideale Vorgehensweise. Ärzten stehen mittlerweile einige Wirkstoffe zur Verfügung. Methadon liegt als Racemat, sprich als Gemisch von Bild und Spiegelbild des Moleküls vor. Im Gegensatz zum linksdrehenden Levomethadon hat das rechtsdrehende Dextromethadon kaum analgetische Eigenschaften, führt aber zu Nebenwirkungen. Deshalb setzen viele Suchtmediziner heute Levomethadon ein. Buprenorphin werde mittlerweile auch in der Schwangerschaft verordnet und sei das sinnvollere Medikament in Hinblick auf den späteren Entzug des Kindes, sagt Siedentopf. „Nur die Einstellung ist nicht leicht.“ Als weitere Möglichkeit nennt er retardiertes Morphin.
Nach der Geburt führen Ärzte beim kleinen Patienten einen dosisabhängigen Entzug durch, was im Falle sauberer Substitutionen ohne Beigebrauch anderer Moleküle auch gelingt. Buprenorphin sei als verträgliches, lange wirksames und weniger sedierendes Präparat gut geeignet. Die Behandlungszeiten sind kürzer, und der Wirkstoff lässt sich gut ausschleichen. Das macht Sinn: „Unterbrechungen der Mutter-Kind-Bindung schaden nur.“ Bei den Frauen wachse mit jedem Tag der Hospitalisierung das Schuldgefühl. Gleichzeitig gebe es durch Trennungen häufiger Stillprobleme. Apropos Muttermilch: „Der Tenor der Nationalen Stillkommission und der Kinderärzte ist, dass Stillen bei einer sauberen Substitution als bester Weg gilt.“ Auch hier gibt es Besonderheiten zu beachten. Siedentopf rät zur engmaschigen Überwachung und ergänzt, Morphin eigne sich während der Stillzeit nicht zur Substitution. Erfahrungswerte liefert das Portal Embryotox, da klinische Studien aus ethischen Gründen abzulehnen sind. Morphin scheint stärker in der Muttermilch zu landen als Buprenorphin. Es wirkt auch stärker atemdepressiv. „Unter einer in der Schwangerschaft schon bestehenden Substitutionstherapie mit Buprenorphin darf bei guter Beobachtung des Kindes gestillt werden, wenn ausgeschlossen ist, dass die Mutter weitere Drogen nimmt“, fassen Experten von Embryotox in ihrer Bewertung zusammen.
Für Siedentopf führt an der Substitution kein Weg vorbei. „Allerdings macht die Behandlung nur Sinn, wenn man auch das psychosoziale Umfeld berücksichtigt“, erzählt der Kollege. In vielen Fällen hätten „typische Drogenkarrieren“ schon mit der Pubertät begonnen. Frauen fehlt ein Schulabschluss, eine Berufsausbildung oder eine Wohnung. Bei Migrantinnen aus Osteuropa käme Prostitution zur Drogenbeschaffung noch hinzu; dies sei bei deutschen Frauen mittlerweile seltener der Fall als noch vor Jahren. „Wir versuchen, noch während der Schwangerschaft entsprechende Punkte zu klären. Fangen wir erst nach der Geburt an, geht zu viel Zeit verloren.“ Hier vermittelt die Ambulanz weitere Hilfsangebote, um beispielsweise zu verhindern, dass das Kind nicht aus der Klinik entlassen werden kann, weil seine Mutter keine adäquate Bleibe hat. „Es ist unser Anspruch, solche Probleme vorher zu erkennen“, ergänzt Siedentopf.
Opiatabhängige konsumieren oft zusätzlich legale Genussmittel wie Alkohol und Tabak, deren Effekt sie unterschätzen. Damit entlastet man als Schwangere sein Kind aber in keinster Weise, es kommt lediglich ein weiteres gesundheitliches Risiko für das Baby hinzu. Bei einer guten Substitution, die früh einsetzt und ohne Beigebrauch anderer Substanzen ist, gebe es kaum Auffälligkeiten – weder hinsichtlich möglicher Frühgeburten noch hinsichtlich des Geburtsgewichts. „Je später wir intervenieren und je mehr geraucht wird, umso eher haben Kinder Wachstumsstörungen“, weiß der Experte. „Viele Auffälligkeiten erklären wir aber auch mit dem Tabakkonsum.“ Rauchen wirkt sich negativ auf die Entwicklung eines Babys im Mutterleib aus. Ärzte sprechen vom fetalen Tabaksyndrom und sehen mögliche Assoziationen mit einem niedrigeren Geburtsgewicht, mit Fehlbildungen oder später mit Verhaltensauffälligkeiten. Sobald Ethanol ins Spiel kommt, zeigen sich bekannte Effekte wie fetale Alkoholspektrumstörungen inklusive des fetalen Alkoholsyndroms. Zusammen mit Cannabis verursache Alkohol „weitaus schwerere Schäden“. „Cannabis allein verändert den Kopfumfang aber nicht“, berichtet Siedentopf. „Es kann also sein, dass Substanzen interagieren, dies in der klinischen Praxis aber noch nicht aufgefallen ist.“ Zu den möglichen Folgen von Benzodiazepinen, Methamphetamin oder Kokain gebe es keine guten Daten, Risiken für das Kind seien aber recht wahrscheinlich. Die Moleküle sind placentagängig. Sie passieren auch beim Ungeborenen die Blut-Hirn-Schranke und beeinflussen letztlich die Gehirnentwicklung. „Je mehr andere Substanzen eine Rolle spielen, desto schwieriger wird es auch für uns“, erklärt Siedentopf.