„Mein Immunsystem ist stark genug, ich brauche keine Impfung!“ Wie reagiert ihr auf solche Aussagen eurer Patienten? Wir sprechen mit einem Immunologen über gängige Mythen zur Abwehr von Viren.
Ein Tweet von Christian Drosten schlug vor kurzem Wellen in den Medien. Deutschlands wohl bekanntester Virologe schrieb auf Twitter: „Wer glaubt, durch eine Infektion sein Immunsystem zu trainieren, muss konsequenterweise auch glauben, durch ein Steak seine Verdauung zu trainieren. Im Ernst: Immunreaktion vs. ‚starkes Immunsystem‘ ist wie Lernen vs. Intelligenz. Ich kann ein Gedicht auswendig lernen, bin dadurch aber nicht intelligenter geworden. Ich kann eine Infektion überstehen, habe dadurch aber nicht ‚mein Immunsystem gestärkt‘ “.
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Auch nach zwei Jahren Pandemie plädiert Drosten für mehr Aufklärung. Anlass für den Tweet war ihm zufolge ein Interview vom Deutschlandfunk, in dem ein Pfarrer Gründe nannte, die ihn bisher von einer Covid-Impfung abgehalten haben. Der Pfarrer – selbst über 60 und somit Risikogruppe – beschreibt sich darin als fit und gesund. Er setze lieber auf die Stärkung seines Immunsystems und sei generell sehr selten krank. Auch sein Hausarzt bestätige das und habe ihm zum Abwarten geraten.
Immer wieder begegnen einem Aussagen wie „Mein Immunsystem schützt mich genug“ oder auch andersherum „Durch das Maskentragen und Desinfizieren schwächen wir unser Immunsystem“ – auch von Menschen, die medizinisch ausgebildet sind. Wir wollen diesen Überzeugungen auf den Grund gehen und haben dazu mit Prof. Roland Jacobs, Klinik für Rheumatologie und Immunologie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), gesprochen. Er beschäftigt sich in seiner Forschung mit der angeborenen Immunität.
Lea Wask (DocCheck): Prof. Jacobs, was halten Sie von dem Vergleich, den Prof. Drosten auf Twitter anbringt?
Prof. Roland Jacobs: Die Aussage von Prof. Drosten ist prinzipiell schon richtig, jedoch muss man da mittlerweile mit der Formulierung ein bisschen aufpassen. Mit solchen Aussagen bringt man unter Umständen auch wieder viele Leute durcheinander, weil sie vorher gehört haben: Ein Immunsystem muss trainiert werden. Das ist natürlich richtig, beispielsweise wenn ein Neugeborenes auf die Welt kommt und sich das Immunsystem aufbaut, dann ist das eine Art von Training.
Ich selber finde aber diesen Ausdruck ‚Trainieren‘ nicht so gut, weil die Leute da Bilder im Kopf haben, wie jemand Runden läuft oder in die Mucki-Bude rennt, um seinen Körper zu stärken. So ist es natürlich nicht. Der Körper muss sich aber mit den Antigenen, die in seiner Umgebung sind, auseinandersetzen, d. h. mit ihnen in Kontakt kommen. Dann bildet sich kein trainiertes, sondern eher ein spezialisiertes Immunsystem aus. Es erkennt dann diese ganzen spezifischen Antigene und kann sie eliminieren, wenn sie in den Körper eindringen.
Es ist natürlich so, dass man das Immunsystem initial ausbilden muss. Aber das, was der Pfarrer meint, dass man permanent rausgehen muss an die frische Luft um sein Immunsystem zu trainieren, das ist Unsinn und stimmt so nicht.
Und wie steht es mit den Masken – hat der Mund-Nasen-Schutz unser Immunsystem sozusagen faul werden lassen?
Wir können, wenn wir ein physiologisch ausgebildetes Immunsystem haben, uns auch sonst wo hin bewegen und Masken tragen, ohne dass unser Immunsystem dadurch verändert würde. Es gibt ja auch Leute, die längere Zeit in Isolation sind, beispielsweise Astronauten, die monatelang auf der ISS sind – so gesehen im luftgefilterten keimfreien Raum. Die kommen ja auch nicht zurück zur Erde und haben kein Immunsystem mehr. Und das trifft auch für andere Berufe zu, wo Leute jeden Tag 8–9 Stunden in Reinsträumen arbeiten, um z. B. Computerchips herzustellen.
Andererseits sind wir, abgesehen von den Astronauten vielleicht, vor und nach unserer Arbeitszeit ständig und pausenlos mit Keimen und Viren umgeben, die unser Immunsystem aufnimmt und verarbeitet und sich damit spezialisiert. Dafür ist aber keine Infektion nötig. Ohne ein aktives Immunsystem würden wir nicht mal ein paar Tage überleben. Aber als gezieltes Training des Immunsystems, wie es sich viele Menschen vorstellen, sollte man das nicht bezeichnen und so was kann man auch nicht durchführen, indem man sich vielen Keimen aussetzt. Das ist absolut unnötig und geht vollkommen an der Realität vorbei. Insofern fand ich die Formulierung von Prof. Drosten zwar richtig, aber nicht optimal – vor allem, wenn es beim Zitieren dann aus dem Zusammenhang gerissen wird.
Trotzdem hört man immer wieder, dass es viele Menschen, die letztes Jahr überhaupt nicht erkältet waren, jetzt umso schlimmer erwischt hat. Das wurde dann oft kommentiert mit: „Kein Wunder, mein Immunsystem ist völlig untrainiert.“ Was steckt dahinter?
Also, das ist definitiv nicht so. Mein Immunsystem ist genauso gut wie vor zwei Jahren. Durch die Maßnahmen war es tatsächlich so, dass wir uns letzten Winter gut vor Tröpfcheninfektionen geschützt haben und wir deshalb nicht krank wurden. Anders ist es bei den kleinen Kindern und beispielsweise dem RS-Virus, da war schon so eine Art Rebound-Effekt zu sehen. Die Eltern haben sich ja diesen Winter wieder normaler bewegt. Für sie stellen RS-Viren keine Gefahr da, die merken sie gar nicht. Für Kinder aber schon. Die bekommen diese Viren dann ab, ohne vorher vielleicht mit kleineren Mengen schon mal in Kontakt gekommen zu sein. Ich glaube aber auch, dass es nicht mal so ist, dass das einzelne Kind nun dieses Jahr schlimmer erkrankte. Das Schlimme war eher die dichte zeitliche Häufung vieler erkrankter Kinder, welche dann die pädiatrischen Stationen an ihre Grenzen brachten.
Wenn Menschen nun sagen, sie seien dieses Jahr schlimmer krank gewesen als vor der Pandemie, dann ist das eher ein subjektiver Eindruck. Man hat vielleicht auch dieses Jahr mehr darauf geachtet. Ich kann aus meinen klinischen Beobachtungen jedenfalls nicht sagen, dass es zu mehr anderen viralen Erkrankungen kam dieses Jahr. Eher im Gegenteil – Tröpfcheninfektionen sind immer noch eher seltener als vor der Pandemie.
Einige Menschen, wie der erwähnte Pfarrer, haben keine Angst vor einer COVID-19-Infektion. Sie sagen: „Mein Immunsystem ist stabil, ich bin nie krank.“ Wie stehen Sie dazu?
Das ist einfach Humbug [lacht]. Ich glaube nicht daran, dass jemand sagen kann, dass er ein besonders gutes Immunsystem hat. Man kann vielleicht feststellen, dass man so gut wie nie krank wird, im Sinne von Erkältungskrankheiten. Das ist aber eigentlich das Normale – normalerweise werden wir nicht krank. Wenn man überlegt, wie vielen Keimen wir jeden Tag ausgesetzt sind, dann sollte man sich eigentlich eher wundern, dass man permanent gesund ist. Wir setzen uns ja sekündlich mit einem neuen Keim auseinander. Auch Mutationen von Zellen passieren alle Nase lang. Aber wir werden nicht krank, weil unser Immunsystem so gut ist, dass es diese Dinge beseitigen kann.
Es ist aber so, dass wir unser Immunsystem natürlich in gewissen Maße schwächen können oder es beim richtigen Funktionieren behindern, durch z. B. die Zerstörung der Hautbarriere oder mit durch Austrocknung angegriffenen Schleimhäuten. Auch wenn ich einer extrem hohen Zahl von Keimen ausgesetzt bin, wie in feuchter Luft mit vielen fremden Menschen – da gelangt unser Immunsystem an seine Grenzen und schafft das unter Umständen nicht mehr. Das ist immer eine Frage des Gleichgewichts, also wie viel das Immunsystem im jeweiligen Moment noch ausgleichen kann.
Kippt dieses Gleichgewicht kurzfristig, werden wir unter Umständen krank, bilden gegen die verursachenden Keime dann aber eine Immunität aus und beim nächsten Mal sind wir bei diesem Keim gut gewappnet und werden keine Probleme haben. Schnupfen ist aber ja leider nicht immer derselbe Schnupfen und kann durch eine Vielzahl verschiedener Viren verursacht werden. Wenn ich in einer Saison gegen drei oder vier verschiedene Viren Immunität ausgebildet habe, dann hauen mich nächsten Winter leider wieder neue Viren um, die mein Immunsystem eben noch nicht kennt.
Was können Ärzte ihren Patienten raten, wenn sie gezielt danach fragen, wie man das Immunsystem nachweislich stärken oder schwächen kann? Und von welchen Komponenten des Immunsystems reden wir in solchen Diskussionen?
Ja, natürlich ist es so: Wenn man genug schläft, genug isst und alle Umgebungsvariablen top sind, dann ist man fein raus, hat ein gutes Immunsystem und wird selten krank. Was anderes ist es natürlich, wenn die Umgebung schlecht ist, wie z. B. in Nahverkehrsmitteln, kalte und feuchte Luft, viele Menschen tragen schon Grippeviren mit sich herum. Dann habe ich natürlich schon mal schwierigere Bedingungen. Und wenn ich dann auch noch permanent unter Stress stehe und mich nicht wohl fühle, dann habe ich auch Probleme, mich mit diesen ganzen Faktoren auseinanderzusetzen.
Das hat auch physiologische Gründe: Wenn wir Stresshormone, wie Adrenalin, ausschütten, dann docken diese auch bei vielen Immunzellen an entsprechende Rezeptoren an. Wir haben vor etlichen Jahren mal Fallschirmspringer untersucht, und haben gesehen, dass dort NK-Zellen in extrem kurzer Zeit den Blutkreislauf fluten. Die Zusammensetzung des Immunsystems ändert sich also kurzzeitig. Nach einigen Stunden regulierte sich das in diesem Modell wieder. Im Alltagsstress verändert sich die Zusammensetzung der verschiedenen Zellpopulationen des Immunsystems also permanent.
Das ist bei kurzzeitigem Stress erst mal kein Problem. Wenn man aber längeren chronischen Stresssituationen ausgesetzt ist, kann das natürlich auch zu Problemen bei der Immunantwort führen. Sämtliche Lymphozyten können da unter Umständen abnehmen und dann kann man nicht mehr adäquat auf Pathogene reagieren. Auch bei Trauer konnte das nachgewiesen werden. Wenn man sich also über lange Zeit in einer Art Depression befindet, dann kann man von einem geschwächten Immunsystem ausgehen.
Es gibt also grundsätzlich gute Faktoren und bestimmte Umwelteffekte, die sich negativ auswirken können. Wie sieht es nun konkret mit dem Stärken aus?
Ja, da hört man ja immer wieder von Dingen wie Mistelextrakt oder so etwas, die das Immunsystem stimulieren sollen. Ich halte davon nicht sehr viel. Es ist ja so, momentan wird in den Medien viel über Antikörper berichtet, das ist bei der Abwehr einer Virusinfektion aber nur ganz zu Anfang wichtig. Ein Virus, bzw. das Antigen, wird nach der Aufnahme zunächst von unspezifischen Zellen wie Monozyten, Granulozyten und dendritischen Zellen erkannt. Diese nehmen dann das Antigen auf und präsentieren es den T-Zellen. NK-Zellen und T-Zellen zerstören dann entsprechend die befallenen Zellen – also das Virusreservoir – und eliminieren damit die Viren. Diese ersten unspezifischen Zellen kann man durch solche Dinge wie Mistelextrakt ein Stück weit aktivieren. Aber das bringt in meinen Augen nicht viel, denn das ist ja nur ein Teil der Abwehr.
Ich würde eher sogar davon ausgehen, dass eine solche Stimulation gar nicht mal so gut sein muss. In der Regel haben wir ziemlich ausgefeilte Feedback-Mechanismen, die eine solche Überaktivierungen dann sowieso wieder drosseln, wenn es keinen Grund hierfür gibt.
Letztendlich besteht eine Virusabwehr ja immer aus diesen zwei Teilen: Antikörper blockieren den Eintritt der Viren. Unspezifische Zellen mit Fc-Rezeptoren können an die Antikörper andocken, nachdem sie das Antigen gebunden haben und diese dann samt der Viren beseitigen. Das ist der eine Teil. Der zweite Teil ist dann die T-Zell-Antwort, bei der die Körperzellen, in die die Viren schon eingedrungen sind, eliminiert werden. Dann fehlt dem Virus die Grundlage, sich zu vermehren und die Infektion ist besiegt.
Was würden Sie also Patienten sagen, die sich nicht impfen lassen, weil sie davon ausgehen, ein robustes Immunsystem zu haben?
Ich glaube, es gibt keinen verlässlichen Parameter, mit dem man sagen kann: Dieser ältere Mensch hat ein super Immunsystem oder dieser nicht. Eine Erkrankung hängt ja auch viel zu sehr von der Situation ab, in der ich mich anstecke. Wenn ich in einer Umgebung mit hoher Viruslast bin, egal ob ich normalerweise nie Erkältungen habe, dann werde ich krank – besonders, wenn mein Immunsystem noch nicht auf SARS-CoV-2 spezialisiert ist und den Erreger nicht kennt.
Bei COVID-19 ist außerdem das Problem, dass sehr viele verschiedene Gewebetypen vom Virus angegriffen werden. Man findet SARS-CoV-2 in der Lunge, in der Niere, in Gefäßen und so weiter. Und dann kommt es natürlich kurzzeitig an all diesen Orten zu einer Entzündungsreaktion. Das ist letztendlich das Verheerende, was vom Körper nicht mehr ausgeglichen werden kann. Gutes Immunsystem hin oder her.
Vielen Dank für das Gespräch!
Bildquelle: Anna Goncharova, unsplash