Ein neues Orphan Drug weckt Hoffnungen, die Überlebenschance beim multiplen Myelom zu erhöhen. Wie schlägt sich das Antikörper-Wirkstoff-Konjugat in Studien?
Teil 5 unserer Serie über seltene Krankheiten und ihre Behandlung. Hier geht's zu Teil 4.
Das Multiple Myelom (MM) wird auch als Plasmozytom oder Morbus Kahler bezeichnet. Es handelt sich dabei um eine Form von Knochenmarkkrebs, der das Immunsystem betrifft. Jährlich werden in Deutschland etwa 3.600 Neuerkrankungsfälle bei Männern und ca. 2.900 bei Frauen diagnostiziert. Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei Frauen bei 72 Jahren und bei Männern bei 74 Jahren. Die absolute 5-Jahres-Überlebensrate wird mit 41 Prozent bei Männern und 40 Prozent bei Frauen angegeben. Die relative 5-Jahres-Überlebensrate liegt bei 48 Prozent (Männer) bzw. 45 Prozent (Frauen), so die Angaben der Gesellschaft für Epidemiologische Krebsregister in Deutschland.
Die Symptome des multiplen Myeloms variieren je nach Patient. Es kommt im weiteren Verlauf zu einem typischen Symptom-Quartett, das als CRAB (Krabbe) bezeichnet wird. Das Akronym steht für:
C: Hypercalcämie
R: Renal failure, Niereninsuffizienz
A: Anemia, Anämie
B: Bone lesions, Knochenläsionen
Hohe Konzentrationen von Calcium im Blut werden aus den betroffenen Knochen mobilisiert. Die Hypercalcämie kann zu extremem Durst, Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit, Verwirrtheit und Obstipation führen. Die hohen Calciumkonzentrationen sind auch die Ursache für ein mögliches Nierenversagen. Wenn Krebszellen in Relation mit den Erythrocyten im Knochenmark in die Überzahl geraten, kann es zu einer Anämie führen.
Obwohl sich die Therapielandschaft für das MM erweitert hat, neigt die Krankheit immer zu Rückfällen. Um tiefgreifende und dauerhafte Antworten zu erhalten, erfordert jeder Rückfall die Anwendung einer neuen Strategie. In den letzten Jahren haben sich auch für stark behandelte Patienten neue Behandlungsmöglichkeiten eröffnet. Trotz der momentan verfügbaren Therapieoptionen gilt ein MM aufgrund der hohen Rezidivrate als nicht heilbar.
Seit August 2020 steht in Deutschland eine Monotherapie zur Behandlung des multiplen Myeloms bei erwachsenen Patienten zur Verfügung: Belantamab Mafadotin (BM) ist der erste zugelassene Vertreter aus der Klasse der gegen das B-Zell-Reifungs-Antigen (BCMA) gerichteten Therapien für Patienten, deren Erkrankung trotz derzeitiger Standardtherapie fortgeschritten ist.
Das B-Zell-Reifungsantigen (BCMA) ist ein Zelloberflächenrezeptor an Plasmazellen. Die Tatsache, dass BCMA auf naiven und Gedächtnis-B-Zellen praktisch nicht vorhanden ist, macht es zu einem vielversprechenden Ziel für die MM-Zell-gerichtete Therapie. Belantamab Mafodotin ist ein potentes Antikörper-Wirkstoff-Konjugat, das aus einem monoklonalen Anti-BCMA-Antikörper besteht, der an den Mikrotubuli-störenden Wirkstoff Monomethyl-Auristatin F (MMAF) gebunden ist. Nach der gezielten Freisetzung von MMAF in BCMA-exprimierende Zellen durchlaufen MM-Zellen eine Apoptose. Die Bindung von Belantamab Mafodotin an BCMA verstärkt auch die antikörperabhängige zelluläre Zytotoxizität, die antikörperabhängige Phagozytose und den immunogenen Zelltod. BCMA ist auch das Ziel mehrerer Immuntherapien, die sich derzeit in der Entwicklung befinden, wie beispielsweise T-Zell-Therapien mit chimären Antigenrezeptoren (CAR) und bispezifischen Antikörpern.
Belantamab Mafodotin kann als Monotherapie bei erwachsenen Patienten mit multiplem Myelom angewendet werden, die bereits vier oder mehr Therapien erhalten haben und deren Erkrankung trotz Einsatz mindestens eines Proteasom-Inhibitors, eines Immunmodulators und eines monoklonalen Anti-CD38-Antikörpers refraktär ist.
Getestet wurde die Wirksamkeit von BM in den DREAMM-Studien: Die erste am Menschen durchgeführte DREAMM-1-Studie wurde an erwachsenen Patienten mit MM durchgeführt. Diese hatten einen progressiven Verlauf nach Stammzelltransplantation und der Behandlung mit Alkylatoren, Proteasom-Inhibitoren und immunmodulatorischen Medikamenten.
Die DREAMM-2-Studie wurde in 58 MM-Spezialzentren in acht Ländern durchgeführt. Dabei wurde den Patienten über drei Wochen intravenös 2,5 mg/kg (n = 97) oder 3,4 mg/kg (n = 99) Belantamab Mafodotin verabreicht. Die Patienten erhielten im Median drei Behandlungszyklen. Der primäre Endpunkt waren die Anzahl der Patienten mit einem Gesamtansprechen, welches alle drei Wochen nach dem ersten Zyklus beurteilt wurde. Sekundäre Endpunkte waren die Dauer und Zeit bis zum Ansprechen, progressionsfreies Überleben, Gesamtüberleben, Anteil der Patienten mit klinischem Nutzen sowie die Sicherheit. Die Ansprechrate zum Zeitpunkt der primären Analyse betrug zwischen 31 und 34 Prozent, je nach verabreichter Dosis.
Das Resümee der Autoren nach der Phase-II-Studie: Belantamab Mafodotin als Einzelwirkstoff zeige bei Patienten mit rezidiviertem oder refraktärem multiplem Myelom eine Anti-Myelom-Aktivität mit einem beherrschbaren Sicherheitsprofil.
Steckbrief
Name der Erkrankung
Multiples Myelom (MM)
Weitere Namen
Plasmozytom
Morbus Kahler
Häufigkeit
750.000 weltweit
Gestörte Funktion
Hypercalcämie
Nierensinsuffizienz
Anämie
Knochenläsionen
Genlokalisation
nur diagnostisch relevant
Orphan drugs
Belantamab Mafadotin (Blenrep®)
Wirkung
Monoklonales-Antikörper-Wirkstoff-Konjugat (ADC), dessen Ziel das B-Zell-Reifungsantigen (BCMA) ist
In weiteren Studien wird auch die Wirksamkeit im Vergleich oder in Kombination mit weiteren Pharmaka bewertet, mit bisher positiven Ergebnissen. So untersucht die noch laufende DREAMM-6-Studie die Kombination mit Lenalidomid plus Dexamethason und die Kombination mit Bortezomib plus Dexamethason.
In einer weiteren Studie wurde BM in Kombination mit Pomalidomid und Dexamethason untersucht. Der neue Wirkstoff zeigt darin ein günstiges Sicherheitsprofil, das mit den bekannten Nebenwirkungen von Belantamab Mafodotin und Pomalidomid als alleinige Therapie übereinstimmt, so eine Studie (ALGONQUIN) aus Toronto von Trudel et al.
Eine Studie an 36 Patienten, die in der Mayo Clinic durchgeführt wurde, gibt mit Daten aus dem „realen Leben“ einen Überblick über diverse Kombinationsmöglichkeiten von BM: Die Kohorte erhielt im Median acht vorherige Therapielinien. Die Studienpopulation ist mit 36 Patienten zwar relativ klein, jedoch die größte „reale“ Kohorte von mit BM behandelten MM-Patienten. Die Gesamtansprechrate von BM betrug – ähnlich wie in DREAMM-2 – 33 Prozent. Trotz einiger Verheißungen bleibt die Rolle von Belantamab in der Ära anderer MM-gerichteter Therapien aber unklar.
Unter BM wurden Nebenwirkungen an der Hornhaut des Auges berichtet. Zu den häufigsten zählen eine Keratopathie oder mikrozystenartige Veränderungen des Hornhautepithels. Bei der letztgenannten Nebenwirkung kommt es zu reversiblen Veränderungen im Hornhautepithel. Sie verursachen nicht bei allen Patienten Beschwerden, können jedoch auch zu trockenen Augen oder Verschwommensehen führen. Mit entsprechenden Augentropfen lassen sich diese Symptome gut behandeln.
Außerdem wurden in Studien Thrombozytopenien beobachtet, die zu schweren Blutungen, einschließlich gastrointestinaler und intrakranialer Komplikationen, führen können. Daher sollte ein großes Blutbild vor Behandlungsbeginn und, falls klinisch angezeigt, während der Behandlung gemacht werden.
In Studien zur Erstlinientherapie und in Kombination mit anderen Pharmaka als Adjuvans behaupten muss sich Belantamab Mafadotin noch behaupten.
Interesse geweckt? Hier geht es zum nächsten Teil der Serie.
Bildquelle: Clément Falize, Unsplash