Bei der Progerie wird der Alterungsprozess von Gewebe und Organen über das normale Maß hinaus beschleunigt: Die Betroffenen sterben schon in jungen Jahren an Alterskrankheiten. Ein neues Orphan Drug könnte helfen.
Teil 7 unserer Serie über seltene Krankheiten und ihre Behandlung. Hier geht's zu Teil 6.
Die Symptome einer Progerie entwickeln sich schon in den ersten Lebensjahren: Die Kleinkinder wachsen nicht richtig und ihre Haut, Knochen und Blutgefäße altern viel schneller als bei gesunden Kindern. Einige Kinder mit dem Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom erreichen das Erwachsenenalter; im Durchschnitt werden sie aber nur etwa 13 Jahre alt. Erstmals wurde in den USA ein Orphan Drug gegen die Erkrankung zugelassen, das die Lebenserwartung verlängert: Lonafarnib.
Das Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom (HGPS) gehört mit einer Prävalenz von 1 zu 20 Millionen lebenden Personen zu den seltenen Erkrankungen. Es wird autosomal dominant vererbt und ist eine vorzeitige Alterungskrankheit. Das Syndrom wurde erstmals 1886 von Jonathan Hutchinson und Hastings Gilford beschrieben. Die Erkrankung umfasst Gedeihstörungen, generalisierte Lipodystrophie, Alopezie, Knochendysplasie und auch fortschreitende Atherosklerose. Es kommt zu Herzerkrankungen und Schlaganfällen. Bei dieser Krankheit sind weder das Serumcholesterin, noch der hochempfindliche C-reaktive Proteinspiegel erhöht. Herzinsuffizienz im Durchschnittsalter von 14,6 Jahren verursacht hauptsächlich die Mortalität.
Das Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom wird durch pathogene Einzelbasen-Varianten im LMNA-Gen verursacht. Diese aktivieren eine kryptische Spleißstelle, die zur Produktion eines farnesylierten mutierten Lamin-A-Proteins führt, welches als Progerin bezeichnet wird. Lamin A ist ein Protein der inneren Kernmembran. Es ist für viele Zellfunktionen von entscheidender Bedeutung. Durch die anhaltende Farnesylierung lagert sich das mutierte Protein in die innere Zellkernmembran ein, wo es sich akkumuliert und alternden Zellen Schaden zufügt. Bei der Progerie Typ I ist das Lamin A verkürzt. Dadurch wird die Kernhülle geschwächt und es kommt zu einer Verformung des Zellkerns. Durch das verkürzte Lamin A treten unter anderem Fehler bei der Zellteilung auf.
Der Progerie Typ II wird als Werner-Syndrom (WS) bezeichnet, nach Otto Werner, der es erstmals 1904 beschrieb. Es handelt sich dabei um eine seltene autosomal-rezessive Erkrankung mit Beginn im späten Jugend- oder frühen Erwachsenenalter. Körperliche und metabolische Anomalien sind für die Krankheit charakteristisch und führen zu schweren altersbedingten Komplikationen, wie beispielsweise Diabetes, Bluthochdruck und Osteoporose. Auch Myokardinfarkte, Schlaganfälle und Krebs kommen vor. Typ II der Progerie tritt im Erwachsenenalter auf, Typ I hingegen im frühen Kindesalter.
Beim Progerie Typ I sind alle Zellen von einer extrazellulären Matrix oder kurz ECM umgeben. Progerin beeinflusst die Produktion von ECM-Proteinen negativ. Die Folge ist eine gestörte Zellumgebung und eine langsamere Proliferation. Dies steht im Zusammenhang mit niedrigen LAP2α-Mengen. Wird Zellen mit Progerie LAP2α verabreicht, verfügen sie wieder über eine intakte ECM. Zudem vermehren sie sich normal. Schließlich treten sie auch nicht in den zellulären Alterungsprozess ein.
Die neuen Erkenntnisse zu Progerin eröffnen neue Wege zur Entwicklung von spezifischen Strategien zur Behandlung von Progerie. Da die frühzeitige Alterung bei Progerie in vielen Aspekten der normalen Alterung gleicht, erlauben die Ergebnisse auch Rückschlüsse auf die zellulären Vorgänge während des normalen Alterungsprozesses. Wird es irgendwann ein Arzneimittel gegen das normale Altern geben? Will man das?
Das neue Orphan Drug wurde ursprünglich als Prüfpräparat in der Onkologie entdeckt. Die Entwicklung von Lonafarnib für die Onkologie wurde allerdings wegen mangelnder Wirksamkeit eingestellt. Bei Progerie hemmt Lonafarnib die Farnesyltransferase, um die Farnesylierung und die nachfolgende Akkumulation von Progerin und Progerin-ähnlichen Proteinen im Zellkern und zellulären Zytoskelett zu verhindern. Das Präparat erhielt seine Zulassung zur Reduzierung des Mortalitätsrisikos bei HGPS und zur Behandlung von Processing-defizienten progeroiden Laminopathien.
Zwei einarmige Phase-2-Studien zeigten, dass die Behandlung mit oralem Lonafarnib die durchschnittliche Lebensdauer von Patienten mit HGPS im Vergleich zu übereinstimmenden, unbehandelten Patienten aus einer Studie zum natürlichen Krankheitsverlauf verlängerte.
Studie 1 umfasste 28 Patienten, die das empfohlene Behandlungsschema mit Lonafarnib für 24-30 Monate erhielten. Von diesen Patienten hatten 26 eine klassische HGPS, einer eine nicht-klassische HGPS und einer eine Processing-defiziente progeroide Laminopathie mit heterozygoter LMNA-Mutation mit einer Progerin-ähnlichen Proteinakkumulation. Von den Patienten, die Studie 1 abgeschlossen haben, nahmen 26 auch an der Studie 2 teil, die aus zwei Teilen bestand.
In Teil 1 von Studie 2 erhielten die Patienten Lonafarnib mit Pravastatin und Zoledronsäure für etwa 5 Jahre; es wurde jedoch kein zusätzlicher Nutzen der dreifachen medikamentösen Therapie im Vergleich zu den verfügbaren Daten zur Lonafarnib-Monotherapie festgestellt. Daher wurde die Behandlung mit Pravastatin und Zoledronsäure abgebrochen. Die Empfänger der Triple-Therapie durften am zweiten Teil der Studie teilnehmen. In diesem erhielten die Patienten Lonafarnib 150 mg/m2 zweimal täglich für ≤ 3 Jahre. Dieser Teil von Studie 2 umfasste 35 behandlungsnaive Patienten mit einem Durchschnittsalter von 6 Jahren.
Als Kontrolle zog die FDA historische Daten vergleichbarer Patienten ohne diese Pharmakotherapie heran. Es zeigte sich: Unter Lonafarnib erhöhte sich die Lebensdauer von Patienten mit Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom in den ersten 3 Behandlungsjahren um durchschnittlich 3 Monate und in der maximalen Nachbeobachtungszeit von 11 Jahren um durchschnittlich 2,5 Jahre.
Steckbrief Lonafarnib
Name der Erkrankung
Progerie Typ I
Weitere Namen
Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom (HGPS)
Häufigkeit
1 pro 4 Millionen Geburten
Prävalenz von 1 zu 20 Millionen lebenden Personen.
Gestörte Funktion
Gedeihstörungen
generalisierte Lipodystrophie
Alopezie
Knochendysplasie
fortschreitende Atherosklerose
Herzerkrankungen
Genlokalisation
Mutation im LMNA-Gen
Orphan drugs
Lonafarnib (Zokinvy®)
Wirkung
Oraler FTase-Hemmer
Lonafarnib ist kontraindiziert bei gleichzeitiger Anwendung mit starken oder mäßigen CYP3A-Inhibitoren und -Induktoren, sowie Midazolam und bestimmten cholesterinsenkenden Arzneimitteln. Einige Patienten, die mit Lonafarnib behandelt wurden, entwickelten Anomalien bei den Laborwerten (Veränderungen der Natrium- und Kaliumspiegel im Blut, verringerte Anzahl weißer Blutkörperchen und erhöhte Leberwerte).
Eine Untersuchung zeigte, dass nach Verabreichung mehrerer Dosen die Einnahme von Nahrungsmitteln die Pharmakokinetik von Lonafarnib nicht beeinflusst. Um die Verträglichkeit zu verbessern wird daher von den Studienautoren empfohlen, die Mehrfachdosis von Lonafarnib zusammen mit Nahrung zu verabreichen.
Farnesyltransferase-Inhibitoren (FTIs) wie Lonafarnib stehen bei der Behandlung verschiedener Erkrankungen im Mittelpunkt, insbesondere – wie eingangs erwähnt – im Bereich der Krebstherapie. Ihr Potenzial geht jedoch noch weiter. Eine Reihe von Studien untersuchten FTIs bereits zur Behandlung von Infektionskrankheiten wie Malaria, Leishmaniose und Hepatitis D. Die Analyse zur Wirkung auf häufige menschliche Krankheitserreger könnte also zu neuen Erkenntnissen über ihre Abwehrmechanismen führen und somit auch neue Therapien gegen bakterielle Infektionen bieten.
Um die Wirksamkeit der Behandlung von Patienten mit HGPS zu verbessern, ist es offensichtlich, dass ein einziges Arzneimittelregime nicht alle Zell- und Gewebedefekte rückgängig machen kann. Dies erfordert die Kombination von verschiedenen Arzneimitteln, die auf bestimmte zelluläre Prozesse abzielen. Außerdem sollten sie gleichzeitig synergistisch und komplementär wirken, um eine niedrigere Dosierung zu ermöglichen und dadurch die jedem Arzneimittel innewohnende Toxizität und Nebenwirkungen zu verringern.
Auf zellulärer Ebene induziert Lonafarnib mitotische Defekte, was zu genomischer Instabilität und Donut-förmigen Zellkernen führt. Um die Prognose einer Behandlung mit Lonafarnib bei Kindern mit HGPS zu verbessern, werden also Verbindungen benötigt, die FTI-negative zelluläre Wirkungen aufheben und solche Zellfunktionen verbessern, die durch FTI nicht wiederhergestellt werden.
Die Kombination von Lonafarnib mit Baricitinib beispielsweise bietet eine Möglichkeit, die zelluläre Toxizität zu reduzieren und die HGPS-Symptome weiter zu lindern als mit Lonafarnib allein. Baricitinib ist ein selektiver und reversibler Inhibitor von Januskinase (JAK)1 und JAK2. JAKs sind Enzyme, die intrazelluläre Signale von Zelloberflächenrezeptoren für eine Reihe von Zytokinen und Wachstumsfaktoren weiterleiten, die an der Hämatopoese, Entzündungsprozessen und der Immunabwehr beteiligt sind.
Heute ist Lonafarnib zwar die einzige von der FDA zugelassene Behandlung für Kinder mit HGPS, aber es ist immer noch kein Heilmittel. Die klinischen Studien mit Lonafarnib zeigten aber immerhin eine signifikante Verbesserung in einigen Aspekten der Krankheitsentwicklung.
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Bildquelle: Rod Long, Unsplash