Infektionen mit dem Hepatitis-D-Virus werden auch in Deutschland immer häufiger entdeckt. Bulevirtid soll die Off-Label-Therapie mit Interferonen ersetzen. Was kann das Virostatikum?
Teil 8 unserer Serie über seltene Krankheiten und ihre Behandlung. Hier geht's zu Teil 7.
Bisher gab es für die Hepatitis D nur Off-Label-Use-Therapien mit Interferonen. Wenn die Pharmazeutische Zeitung das Prädikat „Sprunginnovation“ vergibt und der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) einen Nutzen anerkennt, macht das Hoffnung auf einen Paradigmenwechsel in der Therapie: Das Orphan Drug Bulevirtid wurde nun zugelassen.
Obwohl die HDV-Infektion historisch als eine seltene Krankheit angesehen wurde, deuten neuere Schätzungen darauf hin, dass die weltweite Krankheitslast bei etwa 62–72 Millionen liegen könnte. Mindestens 12 Millionen mit dem Hepatitis-B-Virus (HBV) infizierte Personen sind gleichzeitig mit dem Hepatitis-D-Virus (HDV) infiziert.
Hepatitis D wurde erstmals 1977 von Mario Rizzetto und Kollegen beschrieben und wird heute als die schwerste und am schnellsten fortschreitende Form der chronischen Virushepatitis angesehen. Eine Progression zur Zirrhose tritt bei 10-15 Prozent der Patienten innerhalb von 2 Jahren und bei 70-80 Prozent innerhalb von 5 bis 10 Jahren auf.
Darüber hinaus führt eine HBV/HDV-Koinfektion zu erhöhtem Risiko für hepatozelluläre Karzinome (HCC) und erhöhter Mortalität im Vergleich zu einer HBV-Monoinfektion. Es bleibt jedoch umstritten, ob das Vorhandensein von HDV das Risiko eines hepatozellulären Karzinoms erhöht.
Eine Meta-Analyse von Chang et al. schloss 21 Studien ein, die ein signifikant höheres HCC-Risiko bei Patienten mit HDV/HBV-Doppelinfektion im Vergleich mit denen mit einer HBV-Monoinfektion zeigten.
Die Subgruppenanalyse zeigt, dass Personen mit einer HDV/HBV-Doppelinfektion einem höheren HCC-Risiko ausgesetzt blieben, unabhängig vom Status der Koinfektion mit dem Hepatitis-C-Virus (HCV) oder dem HI-Virus. Das HCC-Risiko blieb bei Patienten mit HDV/HBV-Doppelinfektion im heterogenen Fibrosestadium höher. Bei Patienten mit Zirrhose oder fortgeschrittener Fibrose war der Unterschied im HCC-Risiko zwischen einer HDV/HBV-Doppelinfektion und einer HBV-Monoinfektion statistisch nicht signifikant. „Eine HDV- und HBV-Doppelinfektion erhöht das Risiko einer HCC-Entwicklung im Vergleich zu einer HBV-Monoinfektion signifikant“, so das Resümee der Autoren.
Die Deutsche AIDS-Hilfe gibt dazu folgendes zusammenfassendes Statement ab:
Bis 2020 gab es für die große Mehrheit dieser Patienten keine spezifische Behandlungsoption.
Die Identifizierung des HBV/HDV-Rezeptors und die Entwicklung neuartiger In-vitro- und Tierinfektionsmodelle ermöglichten in den letzten Jahren allerdings eine detailliertere Untersuchung des HDV-Lebenszyklus und erleichterten die Entwicklung spezifischer antiviraler Medikamente.
Die einzige Behandlung, die bisher außerhalb klinischer Studien verwendet wird, ist pegyliertes Interferon (Peginterferon). Die Behandlung wird von erheblichen Nebenwirkungen wie grippeähnlichen Symptomen, Myalgien und Arthralgien begleitet, während sie bei HDV nur begrenzt wirksam ist. Dennoch war sie bisher die einzige Behandlung, die von den großen Lebergesellschaften wie der American Association for the Study of Liver Diseases (AASLD) und der European Association for the Study of the Liver (EASL) unterstützt wurde. Zahlreiche andere Behandlungen, einschließlich HBV-Nukleosidanaloga, wurden in den letzten Jahrzehnten in klinischen Studien mit und ohne Interferontherapie ohne Verbesserungen des therapeutischen Ansprechens untersucht.
Das Blockieren des Zelleintritts von Krankheitserregern ist ein hoffnungsvoller Ansatz, um Neuinfektionen zu verhindern. Der therapeutische Einsatz von Entry-Inhibitoren bei chronisch infizierten Patienten war bisher jedoch nur begrenzt erfolgreich. Zur Behandlung von chronischen Infektionen mit HDV wurde im Juli 2020 der Wirkstoff Bulevirtid auf der Grundlage dieser Wirkungsweise zugelassen.
Was vor rund 25 Jahren als Grundlagenforschung begann, führte nun zur erfolgreichen Zulassung eines Medikaments. Der von Forschern des Universitätsklinikums (UKHD) und der Medizinischen Fakultät Heidelberg gemeinsam mit dem DZIF und weiteren Partnern entwickelte Virusblocker Bulevirtid wurde jetzt von der Europäischen Kommission zugelassen. Das Pharmakon ist also „made in Germany“.
Bulevirtid ist der erste Vertreter der sogenannten „Entry Inhibitoren“ für Hepatitis D und hindert Hepatitis D- und auch B-Viren am Eindringen in die Zellen.
Um in die Leberzelle gelangen zu können, benötigen Hepatitis-D-Viren Hüllproteine von Hepatitis-B-Viren, vor allem L-HBsAg. Die Viren binden sich spezifisch an den Natrium-Taurocholat-Cotransporter (NTCP) und gelangen dann ins Innere der Zelle, wo sie sich replizieren können.
Dieses Andocken an NTCP wird durch Bulevirtid unterbunden. Der Wirkstoff ist ein Peptid, dessen Struktur von L-HBsAg abgeleitet ist. Der Entry-Inhibitor bindet spezifisch an NTCP und blockiert damit die Bindestelle für die Viren.
In der Phase-II-Studie MYR202 wurden Wirksamkeit und Sicherheit von drei Bulevirtid-Dosen (2, 5 und 10 mg/d) über einen Zeitraum von 24 Wochen bei insgesamt 118 Patienten mit chronischer Hepatitis D untersucht.
Die Studienteilnehmer erhielten entweder Bulevirtid plus das Virusstatikum Tenofovir oder eine Tenofovir-Monotherapie. Der primäre Endpunkt der Studie war eine nicht nachweisbare HDV-RNA-Konzentration oder eine Verringerung um ≥ 2log10 von Studienbeginn bis Woche 24.
Dieses Ziel wurde unter Bulevirtid/Tenofovir von 55 von 90 Patienten erreicht. Nur einer von 28 Patienten in der Gruppe mit der Tenofovir-Monotherapie erreichte dieses Ergebnis.
Die empfohlene Dosis von Bulevirtid beträgt täglich 2-mg s.c.. Das Pharmakon kann allein oder in Kombination mit einem Wirkstoff zur Behandlung der Hepatitis-B-Infektion angewendet werden. Die optimale Behandlungsdauer ist nicht bekannt. Laut Fachinformation sollte sie solange fortgesetzt werden, wie dies mit einem klinischen Nutzen verbunden ist. Im Falle einer anhaltenden (sechs Monate) HBsAG-Serumkonversion, kann über eine Beendigung der Therapie nachgedacht werden. Sehr häufig werden erhöhte Gallensäure-Konzentrationen im Blut beobachtet, häufig sind zum Beispiel Reaktionen an der Injektionsstelle.
Bulevirtid wurde im Allgemeinen gut vertragen; es wurde ein asymptomatischer, dosisabhängiger Anstieg der Gesamtgallensäuren beobachtet. Die meisten Nebenwirkungen wurden auch bei Patienten beobachtet, die mit Peginterferon-α behandelt wurden.
Steckbrief Bulevirtid
Name der Erkrankung
Hepatitis D
Weitere Namen
HDV
Häufigkeit
62–72 Millionen weltweit
ca. 3.600 in Deutschland
Gestörte Funktion/Symptome
Häufig symptomlos
Übelkeit
Müdigkeit
Fieber
Ikterus
Leberversagen
Superinfektionen
Lebertumore
Genlokalisation
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Orphan drugs
Bulevirtid (Hepcludex®)
Wirkung
Bulevirtid blockiert den Eintritt des Hepatitis-B-Virus (HBV) und HDV in Hepatozyten, indem es an Gallensalz-Lebertransporter NTCP bindet und inaktiviert. Dieser dient als essentieller HBV/HDV-Eintrittsrezeptor.
Verschiedene Arzneimittel können die NTCP-Zielstruktur von Bulevirtid hemmen. Daher wird es nicht empfohlen, sie mit Bulevirtid zu kombinieren. Dazu gehören beispielsweise Sulfasalazin, Irbesartan, Ezetimib, Ritonavir und Ciclosporin A. Außerdem ist die gleichzeitige Anwendung von NTCP-Substraten nach Möglichkeit zu vermeiden. Dazu gehören beispielsweise verschiedene Statine sowie Schilddrüsenhormone.
Als Vorsichtsmaßnahme sollten Schwangere und Frauen im gebärfähigen Alter, die keine Verhütungsmethode anwenden, nicht mit Bulevirtid behandelt werden. In der Stillzeit muss überlegt werden, ob das Stillen unterbrochen oder auf die Arzneistoff-Therapie verzichtet wird.
Bulevirtid wird im Gefrierschrank aufbewahrt (-20 Grad Celsius). Vor der Rekonstitution kann das Mittel bis zu drei Monate im Kühlschrank bei 2 bis 8 Grad Celsius aufbewahrt werden. Danach ist es für zwei Stunden bei Raumtemperatur stabil. Aus mikrobiologischer Sicht wird jedoch dazu geraten, es nach Rekonstitution sofort zu verwenden.
Angesichts dieser Ergebnisse hat Bulevirtid von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) und der US-amerikanischen Food & Drug Administration (FDA) den Orphan-Drug-Status für die Behandlung von HDV-Infektionen bereits nach der Phase-II-Studie erhalten. Darüber hinaus hat die EMA Bulevirtid Priority Medicines (PRIME)-Programmzulassung gewährt und die FDA hat ihm den Status einer bahnbrechenden Therapie zuerkannt.
Das IQWiG hat dem Medikament eine positive Bewertung erteilt. Der GBA urteilt: Es besteht „ein Anhaltspunkt für einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen, weil die wissenschaftliche Datengrundlage eine Quantifizierung nicht zulässt.“ Eine Phase-III-Studie läuft zurzeit noch.
Die neuesten Daten zeigen, dass die weltweite Prävalenz viel höher ist als bisher angenommen. Daher ist ein Screening mit Nachweis von Anti-HDV-Antikörpern für alle chronischen HBV-Patienten obligatorisch. Neuartige Wirts-Targeting-Moleküle werden derzeit untersucht. Die aktuellen klinischen Studien der Phase II umfassen pegyliertes Interferon-Lambda, Lonafarnib und andere Pharmaka.
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Bildquelle: Ameer Basheer, Unsplash